Abstand & Zwischen (écart & entre)

von Dag Heinrichowski SJ

Abstand & Zwischen (écart & entre) oder „Logik der De-Koïnzidenz“ (F. Jullien)

Die beiden französischen Begriffe écart und entre, die sich mit „Abstand“ und „Zwischen“ übersetzen lassen, fangen die zentrale Denkbewegung des französischen Philosophen François Jullien ein. Als Theolog:in lohnt sich das Gespräch mit ihm und die Auseinandersetzung mit seinem Denken. Davon zeugen nicht zuletzt sein Essay Ressourcen des Christentums (Jullien 2018), sowie sein jüngstes Buch Moïse ou la Chine (Mose oder China; Jullien 2022). Im erstgenannten entdeckt Jullien, wie sehr und wodurch sein eigenes Denken als laizistischer Gelehrter vom Christentum geprägt ist und im zweiten geht er dem Befund auf die Spur, dass der Gedanke „Gott“ im westlichen Denken einen immensen Einfluss hatte, im chinesischen Denken allerdings keine Rolle spielt. Zwischen Mose und China entscheidet der Philosoph sich allerdings nicht, sondern versucht beide in eine produktive Spannung zu versetzen, um neue Perspektiven zu ermöglichen.

Denken im Abstand öffnet einen Zwischenraum

Die entscheidende Denkbewegung mit den Schlüsselworten écart (Abstand, Abweichung) und entre (zwischen) entsteht in der Begegnung mit China. Als Sinologe verbringt Jullien längere Zeit dort und entdeckt nicht nur eine andere Kultur, sondern eine ganz andere Art zu denken. Und er stellt fest, wie sehr er selbst und sein Denken von Europa und den europäischen Sprachen geprägt ist. In der Begegnung zwischen den Kulturen interessiert er sich nicht für Unterschiede (différences), die zur Bewertung einladen, sondern für Abweichungen und Abstände (écarts). Dieses Denken folgt nicht der Logik der Koinzidenz, die auf genaue Übereinstimmung setzt, sondern der „Logik der De-Koinzidenz“ (vgl. Jullien 2018, 71–88), in der ein Spannungsverhältnis entsteht, das einen Zwischenraum öffnet und so Neuem und Ungeahntem Raum gibt. Wer so denkt, ist nicht Richter:in zwischen zwei Sichtweisen, Kulturen oder Gedanken und schlägt sich nicht einfach auf eine Seite. Diese Methode gleicht der eines:r Mediators:in, der:die einen Prozess anstößt, an dessen Ende sich eine neue Möglichkeit ergeben kann, mit der zu Beginn nicht zu rechnen war. Wie „in aufeinanderfolgenden Spiralen“ (par spirales successivesD.H.)(David 2016, 100) kreist Julliens philosophisches Arbeiten und Denken um diese beiden Begriffe. In verschiedenen Büchern und Vorträgen verkostet und vertieft er sein Konzept und weitet es auf unterschiedliche Bereiche sowie Fragestellungen aus.

Populär und politisch wird diese Denkbewegung mit dem Essay „Es gibt keine kulturelle Identität: Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur“ (Jullien 2016). Die Idee einer kulturellen Identität ist Jullien zu statisch und ginge am Wesen einer Kultur vorbei: Veränderung. Und diese lässt sich in den kulturellen Ressourcen entdecken und ausnutzen: „der écart lässt uns aus der identitären Perspektive aussteigen: er lässt keine Identität erscheinen, sondern das, was ich eine ‚Fruchtbarkeit‘ nennen werde oder, anders ausgedrückt, eine Ressource“ (l’écart nous fait sortir de la perspective identitaire : il fait apparaître, non pas une identitémaiscequejappelleraiune ’fécondité’ ouditautrementune réssource, D.H.) (Jullien 2016, 39).

Solche Ressourcen, die zum Entdecken und zum (Aus-)Nutzen einladen, entdeckt Jullien auch im Christentum. Als laizistischem Denker begegnet ihm in der Auseinandersetzung mit dem johanneischen Christentum überraschenderweise seine prägende Denkbewegung wieder: „Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen“ (vgl. Mt 16,25). Die Abweichung vom Leben öffnet den Weg zu einem Leben in Fülle. Auch in den christlichen Mysterien von Menschwerdung Gottes sowie Tod und Auferstehung Jesu findet Jullien die Logik der De-Koinzidenz wieder: „Gott entfernt sich [s’écarte] von sich selbst, um tatsächlich in sich lebendig zu werden“ (Dieu s’écartede soipour advenireffectivement en soi vivant, D.H.) (Jullien 2018, 83).

Das Denken im Abstand, der ein Zwischen eröffnet, bricht mit einer identitären Logik und zeigt einen konstruktiven und fruchtbaren Umgang mit Vielfalt und Spannungen auf. Der Blick von außen entdeckt überraschende und ungeahnte Ressourcen des Christentums. Diese Ressourcen sind produktiv und nach vorne gerichtet. Auch wenn sie gegensätzlich sein können, ergänzen sie sich spannungsvoll. Ressourcen existieren nur in der Mehrzahl und schützen so vor einer gefährlichen Verengung auf einen einzelnen Aspekt. Ressourcen sind zugänglich für jede Person. Diese Perspektive unterstreicht, dass die Kirche kein Monopol auf den Glauben, das Evangelium oder gar Gott hat. In dieser Haltung kann eine innere Freiheit wachsen, die helfen kann, Verlustängste zu verlieren und Veränderungen nicht als Bedrohung, sondern als Zeichen für Fruchtbarkeit und Leben zu sehen.

Pastoraltheologie de-koinzidiert Praxis und Tradition

Neues, Ungeahntes und Überraschendes entsteht, wenn etwas nicht passgenau übereinander passt. In der Abweichung (De-Koinzidenz) öffnet sich ein Zwischenraum, der neue Perspektiven ermöglicht. Solche Zwischenräume sind produktiv für die Pastoraltheologie. Auch ihr geht es darum, einen Abstand einzunehmen zu dem, was bereits gedacht wurde.

Christian Bauer schreibt in seiner Dissertation: „Praktische Theologinnen und Praktische Theologen sind Menschen, die auf der Suche nach den Kriterien von Kritik in Zeiten der Krise in das Archiv theologischer Diskurse gehen. Ein solcher Aufenthalt im Diskursarchiv wird das Feld pastoraler Praktiken zwar nicht sofort verändern, vielleicht aber kehrt man mit einem veränderten Blick dorthin zurück. […] Praktische Theologen laufen daher permanent zwischen dem theologischen Diskursarchiv und dem Pastoralen Praxisfeld hin und her (lat. discurrere) – sprich: sie führen einen Diskurs über die potentielle Kreativität genau dieser Differenz. […] Praktische Theologie ist daher ein kontrastiver Mischdiskurs sui generis. Sie ist mehr als eine bloße Anwendungswissenschaft der Dogmatik, denn sie führt in einen Entdeckungsraum der Pastoral für neue theologische Orte mit eigener Existenzberechtigung.“ (Bauer 2011, 52).

Die Pastoraltheologie de-koinzidiert die Praxis, den Alltag und die Lebenswelten mit früheren Praktiken, der Tradition und der Dogmatik. In diesem Spannungsverhältnis entsteht Neues und lässt sich Bekanntes neu entdecken und deuten.

Fremde Orte fruchtbar machen

Damit sich im Abstand ein Zwischen öffnet, braucht es den Mut, sich herauszuwagen und herausfordern zu lassen. Diese Grunddynamik ähnelt Papst Franziskus, der nicht müde wird, die Kirche an die Grenzen herauszufordern und sich in die Begegnung zu wagen. Auch Jullien wagt sich in Begegnungen und nimmt die Andersartigkeit und das Überraschende solcher Begegnungen ernst. Die Bibel liest er als Geschichte der Begegnung. Er geht den Umweg, um das Eigene neu zu verstehen. Jedoch ist gerade mit Blick auf seine Lesart des Christentums kritisch rückzufragen, ob er sich dieser Begegnung wirklich ganz stellt. Sein Zugang ohne Glaubensbekenntnis lässt ihn wie einen Schwimmer im leeren Wasserbecken wirken, der theoretisch schwimmen kann und Trockenübungen beherrscht, aber das Nass scheut. Wie ein Jäger und Sammler bedient Jullien sich – wenig systematisch und umso intuitiver – an dem, was er in der „Mine des Christentums“ an Ressourcen findet. Er ist kein Kartograph, der sich für das Ganze und die Zusammenhänge interessiert, sondern dort verweilt, wo fruchtbare Spannung entsteht. Aber genau diese Schwäche macht Jullien zu einem anregenden Gesprächspartner – auch für die Theologie.

Ein Denken und Suchen in Abständen und Zwischenräumen kann zeigen, wie fruchtbar fremde Orte für die Theologie sein können. Es kann helfen, die Flüchtigkeit und Unberechenbarkeit des Heiligen Geistes, „der weht, wo er will“ (vgl. Joh 3,8) ernst zu nehmen. In der Unterschiedlichkeit der Kirche, der Spiritualitäten, Praktiken und Herangehensweisen Ressourcen des Christentums und der Kirche zu entdecken und diese auszunutzen, bietet die Möglichkeit, angstfrei mit innerkirchlicher Vielfalt und Spannungen umzugehen und das Kriterium der Fruchtbarkeit über Eigeninteresse zu stellen.

Literaturangaben

Bauer, Christian (2011). Ortswechsel der Theologie. M.-Dominique Chenu im Kontext seiner Programmschrift „Une école de théologie: Le Saulchoir“ [Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik 42]. Münster u. a., LIT.

David, Pascal (2016). Penser la Chine : interroger la philosophie avec François Jullien. Paris, Hermann.

Jullien, François (2016). Il n’y a pas d’identité culturelle : mais nous défendons les ressources d’une culture. Paris, l’Herne.

Jullien, François (2017). Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur[edition suhrkamp 2718]. Berlin, Suhrkamp.

Jullien, François (2018). Ressources du christianisme : mais sans y entrer par la foi. Paris, l’Herne.

Jullien, François (2019). Ressourcen  des  Christentums.  Zugänglich  auch  ohne Glaubensbekenntnis. Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus.

Jullien, François (2022). Moïse ou la Chine : quand ne se déploie pas l’idée de Dieu. Paris, Éditions de l’Observatoire.

Erstmals eingestellt am 18.08.2023 – zuletzt überarbeitet am 18.08.2023

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