Schreibtisch

Kongressbericht: Wer ist WIR?

Bericht und Reflexion zum Kongress „Wer ist WIR?“ der AG Pastoraltheologie 2023, 11.-13.9.2023 in Leitershofen

Von Christian Kern

1. Vorbemerkungen: lesend-schreibend ein „Wir“ bilden

Bevor wir in medias res gehen, erlauben Sie mir, liebe Leser*innen, eine kurze Vorüberlegung zu diesem Tagungsbericht.

Solche Tagungsberichte sind eine eigenartige Form der Interaktion. Ich schreibe ihn hier, eine Woche nach Ende des Kongresses der AG Pastoraltheologie an meinem Schreibtisch. Später werden ihn Kolleg*innen aus dem Beirat der AG Pastoraltheologie lesen und hoffentlich für okay befinden, so dass er auf der Homepage unserer AG und anderswo erscheinen kann. Sie als Leser*innen sind darauf aufmerksam geworden, und auch indem Sie den Bericht lesen, wird er öffentlich. Gewissermaßen produzieren wir – Sie und ich – diesen Text als Bericht gemeinsam, ich im Schreiben und Sie im Lesen. Denn nur wenn er gelesen wird, kommt er als Text und Bericht zustande und ggf. zum Tragen. Dabei nehmen wir schreibend-lesend Bezug auf die vielen Aktivitäten und Akteur*innen, die in diesem Kongress eine Rolle spiel(t)en und interagieren gewissermaßen auch mit ihnen. Dieser Tagungsbericht ist eine eigenartige Form diachron-simultaner Interaktion: Er konstituiert sich in einer Vielzahl von Referenzen, Bezügen und Praktiken. Sie finden jetzt und hier im Lesen statt, beziehen sich zugleich auch auf ein vorausgesetztes „Früher“ und reichen in eine Zukunft hinein, weil eventuell ja noch andere, die weder Sie noch ich kennen, eventuell, diesen Text lesen und ggf. darauf Bezug nehmen werden.

Ein zweiter Gedanke: Dieser Tagungsbericht – unser gemeinsames Schreiben-Lesen – hat mindestens zwei Ebenen bzw. Dimensionen, die sich wechselseitig durchdringen: eine inhaltlich-diskursive und eine sozial-performative. Der folgende Tagungsbericht wird zum einen vom Verlauf der Tagung erzählen, er wird wichtige Inhalte zusammenstellen und sie in einer eigenen Ordnung präsentieren. Er bewegt sich in diesem Sinne auf einer inhaltlichen Ebene und präsentiert als Reportage Wissen, das im Prozess der Tagung gezeigt und entwickelt wurde. Der Bericht wird sich dabei gleichzeitig auf einer anderen Ebene bewegen bzw. im Lesen-Schreiben eine andere Dimension gewinnen: Er bringt ein „Wir“ zur Gestalt, verleiht einem „Wir“ Kontur, das sich rund um die Tagung bildet(e). Dabei handelt es sich nicht um ein homogenes Wir, in dem sich die Mitwirkenden kennen oder das sich selbst transparent wäre. Vielleicht müsste ich eher sagen, dass der Tagungsbericht „Wir“ oder „Uns“ zum Ausdruck bringt, ohne dass es ein Wir ist.  In ihm vollzieht sich eben jene gerade kurz angesprochene, komplexe, irgendwie unabsehbare simultan-diachrone Interaktion eigener Art.

In und durch die inhaltliche Darstellung gewinnen zugleich einige Akteur*innen Gestalt und werden identifizierbar, die in der Tagung mitwirk(t)en, ihr manchmal auch ein repräsentatives Gesicht gaben und besondere Rollen ausübten: die AG Pastoraltheologie und besonders ihr Vorstand, die Gruppe, die  die Tagung im Vorfeld vorbereitet und koordiniert hat; die sechs Referierenden in ihren Vorträgen während der drei Arbeitstage; die Gruppe junger Theolog*innen in Qualifizierungsphasen, die bereits einen Tag früher, ab dem 10.9. zu einem eintägigen Nachwuchstreffen unter dem Titel „Pastoraltheologie – wen interessiert‘s?“ zusammengekommen waren, um über die Zukunft des Faches nachzudenken; die beiden Moderatorinnen Stephanie Bayer und Tanja Grabovac – et al.

Kurz: Indem wir schreibend-lesend diesen Tagungsbericht durchgehen, bildet sich mit dem diskursiven Gehalt auch eine soziale Gestalt aus, „Wir“. Es besteht nicht unabhängig von dem, was wir jetzt und hier gerade tun, sondern zeichnet sich in unserem Tagungsbericht lesend-schreibend aus. Dieser Tagungsbericht ist, performanztheoretisch betrachtet, nicht einfach ein Dokument; er ist ein Bündel an Praktiken, in dem sich Wir bildet – wobei „Bildung“ hier im doppelten Sinn von Gestaltwerdung und Wissenserwerb verstanden werden kann.

Der dritte Punkt, auf den ich mit meinen Vorbemerkungen hinaus möchte, ist die Selektivität dieses Wir-durch-Bildung-Prozesses. Dieser Tagungsbericht ist auf vielfältige Weise perspektiviert und präfiguriert.

Perspektiviert ist er beispielsweise durch meine eigenen Interessen und Denkweisen, für die ich mich in meiner theologischen Arbeit interessiere und welche meine Teilnahme und die Wahrnehmung der Tagung mehr oder weniger bewusst lenken (kritische Performanztheorie). Etwas Ähnliches gilt wahrscheinlich auch für Ihre Lesegewohnheiten oder Ihren Blick auf diesen Text, in und mit dem Sie ebenfalls etwas machen; wie Sie den Text intellektuell „scannen“, auswählen bzw. auslesen, was Sie mitnehmen oder auch seinlassen. Perspektiviert ist dieser Text a priori auch durch die Arten und Weisen der Organisation und Moderation, mit der die Tagung konzipiert und durchgeführt wurde. Darin wurden bestimmte Themen, Äußerungs- und Interaktionsformen favorisiert oder eher marginalisiert. Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, dass es sich um einen Kongress mit kirchlichen (im Exerzitienhaus Leitershofen, mit Mitarbeitenden aus der Pastoral) und zugleich akademischen Hintergründen handelt (mit Wissenschaftler*innen der Pastoraltheologie), also um einen Kongress in stark institutionalisierten Kontexten.

Mit diesen Kontexten kommt es zu Präfigurationen der Darstellung. Es gibt ein Set an Normen, das sich mit den Kontexten einspielt, und diese Normen vermitteln sich in Darstellungsformen, die feldspezifisch akzeptabel erscheinen und gegeben sein müssen, um den Bildungsprozess anerkennbar zu machen. Die feldspezifischen Normen-Formen produzieren Perspektiven, präfiguieren, was wie überhaupt zur Darstellung kommen kann und erzeugen im Effekt eine Selektivität von Gehalten und Gestalten.  Auch „Wir“, das sich im Zuge der Tagung und im Text dieses Tagungsberichts bildet, ist Teil dieses Selektionsprozesses. Es ist kein harmloses Wir, und auch der Geneseprozess von „Uns“, wie es sich in diesem Tagungsbericht auszeichnet, ist nicht unproblematisch. Er ist selektiv. Indem sich hier Wir bildet bzw. im Text schreibend-lesend auszeichnet, wird zugleich Nicht-Wir erzeugt, das außen liegt. Formation/Bildung und Deformation/Entstellung von Wir geben sich hier die Hand.

Diese Vorbemerkungen sind keine intellektuelle Spielerei und (leider) auch keine Selbstverständlichkeit. Die Selektivität dieses Tagungsberichts und die daraus sich ergebende Deformation des Wir, das er zur Gestalt bringt, ist weitverbreitet und vielfach akzeptiert. Sie finden eventuell überall dort statt, wo Leben repräsentiert wird, besonders in institutionellen Kontexten wie etwa in Kirche, Universität, Politik, Gesellschaft. Wo sich Wir bildet, reproduziert und repräsentiert, kommt man mit dieser Selektion von Darstellungsweisen, der Deformation von Verkörperungen und Gestalten, mit signifikanten sozialen Ausschlüssen in Kontakt. Theologie ist davon nicht ausgenommen. Insofern kann dieser Text als eine Art Synekdoche für ein soziales Grundproblem herhalten: Wo sich über einen inhaltlichen Gehalt eine soziale Gestalt ausformuliert, bekommen „Wir“ es mit einem Problem mindestens latenter, exklusivierender Gewalt zu tun.

Im Laufe des Kongresses der AG Pastoraltheologie ist dieses Problem zutage getreten. Es wurde berührt, partiell thematisiert und anfanghaft bearbeitet. Dieser Tagungsbericht versucht, davon zu berichten und zugleich das Problemniveau mit Blick auf sich selbst offen zu halten – es zu re-präsentieren. Wenn Sie also mögen, gehen wir den Text mit diesem Sinn an. In medias res.

2. Reportage 1: diskursiver Gehalt

Der Kongress 2023 stand unter dem Titel „Wer ist WIR? – Fragmentarität in Gesellschaft, Kirche und Pastoraltheologie“. Leitfragen waren u.a.: Wie bildet sich Gemeinschaft? Wie entsteht, verändert sich oder vergeht „Wir“ in spätmodernen Gesellschaften mit ihrem hohen Grad an Ausdifferenzierung, Pluralität, Widersprüchlichkeit und Fragmentarität? Welche Impulse entstehen von diesen komplexen Dynamiken her für Pastoraltheologie?[1]

Die inhaltlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema begannen mit einem Vortrag von Thomas Großbölting (Zeitgeschichte, Universität Hamburg) an Tag 1 des Kongresses zum Thema „Katholische Illusionen von Ganzheit und ihre (Ent)Täuschung im 19. und 20. Jahrhundert“. Der Vortrag rekonstruierte, wie die katholische Kirche in Mitteleuropa ab Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt auf die Bildung und Festigung katholischer Milieus hinwirkte, um individuelles und gesellschaftliches Leben ganzheitlich christlich zu prägen. Dabei ließen sich jedoch niemals mehr als ca. 45% der Gläubigen in die entsprechenden Lebenswelten einbinden. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und v.a. ab den 1960er Jahren zeichnete Großbölting einen neuen pastoralen Code nach. Nun stand nicht mehr die Einordnung in eine kirchliche Struktur auf Grundlage von Glaubensgehorsam im Mittelpunkt, vielmehr sollten Menschen in ihren individuellen Lebensvollzügen und -gestaltungen ganzheitlich unterstützt und begleitet werden. Diese pastorale Hinwendung im Zeichen von „Liebe“, „Erlösung“, „Freiheit“ jedoch verlor ihre Glaubwürdigkeit u.a. im Sichtbarwerden der Praktiken und Strukturen von Missbrauch und Vertuschung der Katholischen Kirche bis in die aktuelle Zeit. Kirchliche Pastoral prägt ein doppeltes Scheitern von Ganzheitsillusionen: gesellschaftliche Kontexte im großen Stil nachhaltig zu prägen und individuelle Leben ganzheitlich zu formen.

Die drei Vorträge an Tag 2 setzten diese kritische Sicht auf Hoffnungen und Vorstellungen von kirchlicher und gesellschaftlicher Ganzheit fort.

In seinem Beitrag zeichnete André Kieserling (Allgemeine Soziologie, Universität Bielefeld) in systemtheoretischer Perspektive Ausdifferenzierungsprozesse moderner Gesellschaften nach und erklärte von daher eine weitgehende Depotenzierung kirchlicher Institutionen und ihrer Glaubensbekenntnisse: Anders als von ihr selbst erhofft, stelle Kirche keine allgemein unterstellbaren Werte zivilreligiöser Art zur Verfügung, sondern bewege sich als Fragment bzw. Subsystem in einem eigenen gesellschaftlichen Bereich mit eigenem Code. Statt sich anderen gesellschaftlichen Bereichen und ihren Themen anzuschließen und zu assimilieren, solle Religion / Kirche sich auf die „ureigene“ Sprache und die Gestaltung von Transzendenzbeziehungen konzentrieren.

Gunda Werner (Dogmatik und Dogmengeschichte, Universität Bochum) thematisierte die Bildung von gesellschaftlichem Wir in einer feministisch-queertheoretischen Perspektive mit Bezug zu Judith Butlers performativer Körpertheorie. Gesellschaftliche Interaktion, die Bildung gesellschaftlicher Wirs ist reguliert von Mustern, Kategorien und Normen, die nicht explizit und bewusst sind. Dazu zählen Vorstellungen von Geschlecht und entsprechende Rollen-/Privilegienverteilungen ebenso wie, auf einer grundlegenderen epistemischen Ebene, spezifische Körperschemata. Bestimmte Arten und Weisen der Körperlichkeit, des körperlichen Da-Seins und Lebens, sind öffentlich ermöglicht, anerkannt und geschützt, andere nicht. Ein gesellschaftliches Wir verkörpert sich durch Ein-/Ausschlussprozesse, und es entstehen Randzonen weniger lebbaren oder gar nicht lebbaren Lebens. Kritische Körperpraxen in der Öffentlichkeit stellen sich dieser Prekarisierung entgegen, nehmen Bezug auf das ausgeschlossene Andere und treten für die Veränderungen von Lebensbedingungen ein.

Der Vortrag von Michael Schüßler (Praktische Theologie, Uni Tübingen) setzte diese gesellschaftskritische Analyse in einer postkolonialen Perspektive fort. Gesellschaftliche Interaktionen und Organisationen sind durchsetzt von kolonialen Mustern. Menschen werden auf- oder abgewertet, über- oder untergeordnet, ins Zentrum oder an den Rand gerückt aufgrund von Zuschreibungen zu einer Rasse, einer Ethnie oder einer Kultur. Postkoloniale Kritik benennt die Anwesenheit und diskreditierende Wirksamkeit von verschwiegenen kolonialen Mustern und arbeitet gegenüber einer Fiktion reiner Identitäten die Hybridität menschlichen Lebens heraus.  Postkoloniale Kritik öffnet einen ambivalenten Raum, in dem gesellschaftliche Identitäten und Wir-Konstruktionen ihre Eindeutigkeit und Unschuld verlieren, weil sich ihre bleibende Verstrickung in Machtasymmetrien zeigt.

Die Beiträge des dritten Kongresstages thematisierten in einer konstruktiv-gewendeten Perspektive konkrete Ansätze, wie sich Wir in pluralen, komplexen Gesellschaften bildet und wie sich Wir-Bildungsprozesse dynamisch gestalten lassen.

Manuela Kalsky (Religion, Werte und soziale Transformationen, Universität Utrecht) stellte das Projekt www.nieuwwij.nl („Neues Wir“) vor, das sie sozialwissenschaftlich und theologisch in den Niederlanden mit Sitz in Amsterdam begleitet. „Neues Wir“ bringt bereits seit 2008 Menschen in unterschiedlichen Formen und an unterschiedlichen Orten zusammen, um aktuelle Themen des gesellschaftlichen Zusammenlebens wie Ökologie, Migration, Umgang mit Rassismus, Religion und Spiritualität gemeinsam zu reflektieren und zu entwickeln. Entgegen gesellschaftlicher Polarisierungen setzt man auf kooperative Pluralität auf der Grundlagen von en/en denken, (Sowohl-als-auch-Denken). Zentrales Element ist eine Onlineplattform, die die Aktivitäten abbildet und einen digitalen Diskursraum anbietet für Diskussionen, Darstellungen und Entwicklungen von Facetten eines diversen, pluralen, zukunftsoffenen Wir in der niederländischen Gesellschaft. Dieses Wir bildet sich nicht entlang eines strategischen Masterplan, sondern lässt sich nach Manuela Kalsky als Rhizom verstehen, d.h. als nicht-zentralisierter Verflechtungs- und Wachstumsprozess, der überraschend Neues hervorbringt.

Der Vortrag von Maria Herrmann (Theologie & Innovation, Hannover) vertieft diese dynamischen Wachstumsprozesse von „Wir“ und hebt deren Komplexität hervor. Wir bildet sich nicht in eindeutigen, steuerbaren Prozessen, sondern emergiert, d.h. formt sich mit einer nicht eindeutig bestimmbaren, absehbaren, offenen Dynamik. Heutige Gesellschaften sind von Perspektivendifferenzen geprägt und erleben ein Ende der Voraussagbarkeit ihrer Lebensprozesse. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen sind global von einer solchen dynamischen Komplexität, Offenheit, Endlichkeit geprägt. Damit verbinden sich auch Abbrüche und Ausläufer von ererbten sozialen Sichtweisen und Sozialformen. Anhand des Videospiels „The Last of Us“ zeigt Maria Herrmann, wie (post-) apokalyptische Klangfarben und Weltwahrnehmungen in diesen Entwicklungsprozessen entstehen. In komplexen Abbruchs- und Umbruchssituationen wird es zugleich möglich und notwendig, in den Trümmern der Gegenwart nach Neuem und Anderem zu fragen: Schritte ins Offene zu gehen und ein Denken von anders lebbaren Zukünften freizusetzen und zu gestalten.

Durch die sechs Vorträge und die sich jeweils anschließenden Gruppen- und Plenardiskussionen hindurch wurden Konstruktions- und Regulierungsprozesse von Wir-Bildung in spätmodernen, von Pluralität und Heterogenität geprägten Gesellschaften reflektiert. Die Vorträge und Gespräche brachten die mögliche Bindungskraft von Wir-Idealen ebenso zur Sprache wie ihre Fiktivität und Ambivalenz. Wir-Bildungsprozesse können integrative Kraft entfalten und Dazugehörigkeit vermitteln, sie sind aber auch in Grenzziehungen und Ein-/Ausschlüsse verstrickt. „Wir“ bleibt ein Fragment; und ein Fragment, das beansprucht, dem Ganzen Statt zu geben, muss problematisch bleiben. Geht man demgegenüber von Ganzheitsillusionen zur Fragmentarität von Wir als dessen Basis-Realität über, kann sich Potential entfalten: Entdeckung von anders möglichem Leben, von niemals fertigen Zukünften in und aus Fragmenten werden möglich und notwendig. Inwiefern ist Pastoraltheologie gerade für diese „spekulative Extrapolation“[2] anders möglichen Lebens ein Raum, ein Atelier, eine offene Werkstatt?

3. Reportage 2: performative Gestalt

Der Kongress blieb nicht dabei stehen, diese Ambivalenzen des Wir, seine Fragmentarität und Kreativität nur in distanzierter Sachlichkeit mit Blick auf Gesellschaft und Kirche zu thematisieren.  Im Laufe des Kongresses kamen die Teilnehmenden selbst in den Blick als Akteur*innen, die mit Fragmentarität umgehen und sich in Wir-Bildungsprozessen bewegen. Der Kongress gewann darin über einen verobjektivierenden, gesellschaftskritischen Diskurs hinaus eine selbstreflexive, soziale, punktuell auch existentielle Dimension. Wo und wie bin ich in meiner pastoraltheologischen Arbeit mit Fragmentarität in Berührung. In welche Wir-Bildungsprozesse inklusive ihrer homogenisierenden Regulationsmechanismen und ihrer Fragmentarität sind wir verstrickt?

Ein solcher move weg von rein theoretischen Gesellschaftsanalysen hin zu biographischen Erfahrungen von Fragmentarität fand – neben den Cafeteria-Gesprächen am Rande des offiziellen Programms und in Pausen – vor allem an Tag 2 nachmittags in einer spezifischen Arbeitseinheit statt: Es wurden themenfokussierte Kleingruppen gebildet, in die sich die ca. 60 Teilnehmer*innen aufteilten. In den Kleingruppen wurde angeboten, über eigene Erfahrungen der Fragmentarität, der Unfertigkeit, von Disparatheit und Kontingenz ins Gespräch zu kommen. Es öffneten sich kleine Erzählräume zu Fragmentarität in der eigenen Biographie, besonders in pastoraler Arbeit und theologischer Praxis. Eine Kleingruppe beispielsweise reflektierte unter dem Thema „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?“ die eigene theologisch-wissenschaftliche Arbeit, die Erfahrung, dass Texte unfertig bleiben und sich eigene wissenschaftliche Positionen im Laufe der Zeit verändern. Wie mit der eigenen Disparatheit umgehen? Eine andere Gruppe ging Erfahrungen zeitlicher Begrenztheit nach und kontrastierte sie mit der theologisch-spirituellen Rede und Sehnsucht nach Unendlichkeit.

Dieser move weg von einer rein verobjektivierenden Behandlung des Themas hin zu existentiellen und sozialen Dimensionen in den Aktivitäten der Teilnehmenden selbst verdichtete sich in einer markanten Weise auch ausgehend von einer Gruppendiskussion am Abend von Tag 1.

In einer der Diskussionsgruppen wurde die Wahrnehmung geäußert, dass die bisherigen Plenargespräche und -diskussionen vor allem von männlichen (als männlich gelesenen) Sprechern gestaltet wurden. Innerhalb der Gespräche und Diskussionen waren es vor allem männliche Sprecher, die das Wort ergriffen bzw. denen das Wort erteilt wurde. Eine Teilnehmerin äußerte in diesem Sinne Kritik an einer sublim wirkenden männlich-dominierten Gesprächskultur. In der Diskussionsgruppe und später im Plenum wurde die Frage aufgeworfen, wie man mit dieser zutreffend benannten male dominance umgehen könne; und allgemeiner, wie geschlechterspezifische Redegerechtigkeit konkret praktiziert werden könne.

Diese am Abend von Tag 1 aufgeworfene Frage, verbunden mit der Suche nach differenzsensiblen, gerechten Formen der Gesprächskultur, blieb innerhalb der Tagung insgesamt vorhanden und trat immer wieder im Rahmen der Plenardiskussionen und sonstigen Gespräche zutage. Was bedeutet es, wenn „Wir“ eine Tagungs-community auf Zeit bilden? Welche impliziten Regulationsmechanismen auch patriarchaler Art sind darin wirksam? Wie wird dadurch der Diskurs gebrochen, fragmentiert, asymmetrisch? Wie lässt sich hier und jetzt in einer anderen, paritätischen Art der Kommunikation und Interaktion arbeiten und einem offenerem Wir Gestalt verleihen?

In der Tag 2 abschließenden Plenardiskussion wurden später Vorschläge gesammelt, wie auf Asymmetrien, Ausschlüsse, Favorisierungen, Dominanzen innerhalb der Gesprächskultur kritisch-kreativ reagiert werden könnte.

  • Ins Spiel gebracht wurde u.a., in den Plenardiskussionen mit einem „Reißverschlussverfahren“ vorzugehen, d.h. mindestens zwei Redner/Rednerinnenlisten zu führen, um gezielt(er) und paritätisch zwischen Geschlechtergruppen zu wechseln. Dieses Verfahren kam an Tag 3 in der abschließenden Plenardiskussion auch zur Anwendung.
  • Ein weiterer Vorschlag brachte die Anregung auf, bereits in der Tagungsgestaltung und -struktur, Elemente mit aufzunehmen, die eine Metareflexion der Interaktionskultur vorsehen. Analog zu ethnographischen Prozessbeobachtungen, wie sie bei Tagungen bereits eingesetzt werden, ließen sich Arten der Reflexion durchführen, die implizite oder explizite Hierarchien, Regulationsmuster der Gesprächsverläufe und Asymmetrien kritisch reflektierten und thematisierten. Teil eines solchen Meta-Reflexionsprozesses könnte es sein, nicht nur koloniale, geschlechtsspezifische Muster etc. kritisch zu identifizieren, sondern auch kreativ und mit Blick auf die konkret anwesende Gruppe von Mitwirkenden zu entwickeln, wie unter gegebenen Bedingungen Rede- und Partizipationsgerechtigkeit mehr bzw. anders vollzogen werden könne. Darin könnte nach einem situations- und gruppenbezogenen Ethos des Tagungsvollzugs gefragt werden, orientiert an Grundnormen der Gleichheit und Freiheit.
  • Eine dritte Anregung plädierte für Formvarianz und -pluralität: Welche anderen Ausdrucks-, Interaktions- und Darstellungsformen könnten in einer (pastoral)theologischen Tagung Verwendung finden, auch über verbale Formen hinaus, die symmetrische Partizipationen unterstützen?

Die Frage nach der Redegerechtigkeit trat am Ende von Tag 1 auf und blieb als Thema latent, bisweilen explizit vorhanden. Es wurde nicht zum dominanten Thema, und die Weisen, damit ad hoc im Rahmen der Tagung umzugehen, waren eher tentativ und suchend. Aber im Aufkommen dieses Themas und der Bereitschaft, damit situativ weiterzuarbeiten, gewann die Tagung eine besondere Qualität und Dimension. Sie vollzog mit Blick auf sich selbst auf die eigene Praxis, jenen vorausgehend beschriebenen sozial-existentiellen move. Die Debatte bewegte sich zeitweise weg von einer rein distanzierten, vergegenständlichten Besprechung des Themas Wir-Bildung, sondern nahm die eigenen Prozesse in den Blick. Inwiefern bilden auch wir als Tagungs-commmunity – und allgemeiner als scientific community von Pastoraltheolog*innen – eine Wir-community. Inwiefern sind auch wir mit jenen Regulationsmechanismen und auch der Komplexität konfrontiert, die in den Vorträgen theoretisch angesprochen wurde? Es entstand ein gesteigertes Problembewusstsein für die eigene Performanz, d. h. den Vollzug bzw. die Bildung von Wir, ihre Ausdruckskraft aber auch die Exklusivität, die sich darin vollziehen kann.

4. Pastoraltheologisches „Wir“ im morphological turn: zwischen Gehalt und Gestalt

Ich möchte diesen move als einen „morphological turn“ bezeichnen. Im Vordergrund steht darin nicht die Frage nach dem „Was“ oder „Wer“, sondern nach dem „Wie“. Wie bildet sich Wir – und: Wie kann unter den Bedingungen einer spezifischen von Akteur*innen gebildeten Situation ein Wir vollzogen werden? In welchen Arten und Weisen bildet sich Wir, das interaktive Kreativität entfaltet, der eigenen Kontingenz und Komplexität Rechnung trägt und kritisch auf die eigenen Grenzziehungen und asymmetriestiftenden Muster reagiert? Kurz gefasst: Wie ist wir offen / Wie ist offenes Wir? Dieser Frageweise richtet sich nicht auf Subjekte der Wir-Bildung, setzt nicht allein und primär am Ort an, sondern an der Form und dem Vollzug des Wir, seiner Performanz.

Ein solcher morphological turn ist nicht selbstverständlich, wie die oft selbstverständliche Repetition beispielsweise männlich-dominanter Regulationsmechanismen in Tagungsverläufen und dem academic business weltweit zeigt. Sie ist schon von daher relevant und beachtenswert. Theologie in einem solchen performativ-morphologischen turn ist darüber hinaus auch deshalb relevant und erstrebenswert, weil sie einen performativen gap in theologischer Wissensproduktion und kirchlicher Diskussionskultur bearbeiten hilft. Auf Ebene des Diskurses wird hier in vielfältiger Weise etwa schöpfungstheologischer Perspektive von Gleichheit und Ko-Kreativität gesprochen. Im faktischen Verlauf von Interaktion aber klaffen der Gehalt des Diskurses und der Vollzug der Gestalt auseinander. Bleiben Gleichheits- und Ko-Kreativitäts-Theologien nur diskursiv „informativ“ oder gewinnen sie Autorität, die eigenen Vollzüge zu formen und zu durchdringen – zu per-formen?

Ein morphological turn, die Fragen nach dem Wie am Wo des Wer, deutet sich derzeit in einigen Konstellationen an. In aktuellen kirchlichen, aber auch signifikanten öffentlich-politischen Diskussionen etwa rund um ökologische oder migrationspolitische Nachhaltigkeit, lässt sich eine vergleichbare Dynamik wahrnehmen. Wie bildet sich Wir, konstruiert oder kritisiert exklusive Grenzziehungen und asymmetriestiftende Regulierung? Im innerkirchlichen Kontext deute(t)en sich morphological turns etwa im Ringen des Synodalen Weges um Geschlechterpluralität und Geschlechterparität an. In einer verwandten Perspektive befasst(e) sich, fast zeitgleich zum Kongress die AG Pastoraltheologie die Tagung „Gottes stark Töchter“ u.a. mit anderen Formen der Repräsentation, Partizipation und Artikulation in kirchlichen Strukturen, die geschlechter- und Sprecherinnengerechtigkeit erstreben und realisieren.

Der morphological turn, die Frage nach dem Anders-Wie, der sich im Kongress der AG Pastoraltheologie und andernorts zeigt, ist schließlich aus einer fundamentalen theologischen Perspektive von Bedeutung. Mit der Frage nach dem Wie des Vollzugs, mit der Kritik der Performanz, steht die Pastoralität von Theologie auf dem Prüfstand.

„Pastoralität“ lässt sich mit Gaudium et Spes als ein radikaler Außenbezug von Theologie als Konstituens ihres eigenen Da-Seins und Vollzugs verstehen. Theologie ergibt sich nicht von sich selbst her, auch nicht durch eine Tradition, die von denen eingesetzt wird, die sich als Ausleger eben dieser Tradition sehen. Ein theologisches, kirchliches, religiös-soziales Wir ergibt sich nicht durch Selbstreferenz, in der zirkulär (identitär) das eingesetzt und reproduziert wird, was als „Gut“, Quelle und Ursprung vorausgesetzt wird. Theologisches Wir ergibt sich in der Spur von Gaudium et Spes gerade vom Anderen und Ganz-Anderen her.

Nennen wir diesen radikal anderen Referenzpunkt „Gott“. Im Horizont der Pastoralkonstitution findet dieser Gottesbezug nicht außerhalb von Lebensrealitäten statt, findet nicht Gestalt in einer entweltlichten Innerlichkeit oder fernen Abgeschiedenheit. Er vollzieht sich bekanntlich „in den Welten von heute“; und kommt im Eingehen und Eingedenken dieser weltlichen Realitäten dem Anderen auf die Spur.

Der morphological turn, wie er vorausgehend beschrieben wurde, wendet diese Sicht nur auf die Vollzüge von Theologie und theologischen Wirs auf sich selbst und fragt nach dem versteckten, verworfenen Außen im eigenen und fremden Vollzug. Der Gehalt des theologischen Diskurses wird korreliert mit der Gestalt seines Vollzugs und kritisch auf seine exklusiven Grenzziehungen und formelle Regulierungen hin befragt. Wie können wir uns von uns selbst lösen und in anderen Weisen vollziehen, die über uns hinausragen ins Offene und sich von dort her ereignishaft ergeben? „Wir“ bildet sich pastoraltheologisch nur anderswie, heteromorph. Theologie im morphological turn fragt nach dem Vom-Anderen-her-Sein und vollzieht sich kritisch und kreativ anderswie, heteromorph, um den eigenen Ein-/Ausschlussmechanismen zu begegnen.

Vielleicht sind diese Gedanken zu abstrakt, wahrscheinlich sind sie auch zu sehr in einer „eigenartigen“ Sprache formuliert, die sich mir durch meine Beschäftigung mit Performanzkritik eingeprägt hat. Aber sie sind trotzdem ein Versuch, den ich mit Ihnen, liebe Leser*innen teilen möchte, um von der Tagung in Leitershofen und der „Pastoralität“ der Theologie zu berichten, die dort statt und konturartig Gestalt gewonnen hat. Ich nehme auf der Tagung im Rückblick eine Art und Weise wahr, Theologie im morphological turn zu praktizieren.  Über die Inhalte der Vorträge hinaus wurde der Kongress zu einem Reflexions- und Gestaltungsort, in dem ein Wir bedacht und gestaltet wird, das (wenigstens latent) nach einem „Anderswie“ sucht. Der Gehalt des Diskurses verbindet sich in dieser Suchbewegung mit der Gestalt seines Vollzugs, gewinnt eine Ahnung über die mögliche oder reale exklusive Gewalt, die er reproduziert und stellt sich der Frage nach einem Anderswie.

Wenn wir, Sie als Leser*innen und ich als Schreibender, diesen Bericht gemeinsam durchgehen, sind wir Teil des Vollzugs dieses Wir. Der Prozess der Wir-Bildung ist, wie in den Vorbemerkungen angedeutet, aus meiner Sicht selbst nicht unproblematisch. Als Bericht trägt er selbst zu Wir-Bildung und dessen zeitgleicher Deformationen bei, weil er einen Bereich von Unsichtbarkeit abreist, der außerhalb des Fokus und der sprachlichen Reportage bleibt. Wie damit um- und weitergehen? Der Bericht trägt der Erkenntnisdynamik und Lernbewegung des Kongresses Rechnung, wenn er die Frage nach dem Anderswie offenhält. Wie sehen Sie das?


[1] Programm https://pastoraltheologie.org/kongress-2023/

[2] Ein Begriff aus der Science-Fiction-Forschung; ich habe ihn dank Christian Bauer kennen gelernt.

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