von Christoph Naglmeier-Rembeck
Es kursieren viele Bezeichnungen, um dem ursprünglichen Begriff Zivilgesellschaft auf die Spur zu kommen: Homonym, Projektionsbegriff, politischer Signalbegriff, um nur einige zu nennen. Es zeigt sich: Das zu Bezeichnende ist schwer zu fassen, geprägt von Uneindeutigkeit und zudem abhängig von den (bewusst oder unbewusst) getroffenen Vorannahmen. Dass damit auch ein für die Praktische Theologie relevanter Begriff Aufmerksamkeit erfährt, soll im Folgenden gezeigt werden.
Begriffsgeschichte
Die Geschichte des Begriffs Zivilgesellschaft ist eng mit der historischen Ausdifferenzierung öffentlicher Sphären verbunden. Im Rahmen der abendländisch-philosophischen Denktradition liegen die etymologischen Wurzeln des Begriffs in der Antike. So begegnet er zuerst bei Aristoteles und später bei Cicero. Zugrunde liegt bei beiden die anthropologisch-philosophische Annahme, dass der Mensch ein zoon politikon (politisches Lebewesen) sei und natürlicherweise danach strebe, sich als Bürger – also Männer mit entsprechenden Privilegien – jenseits des privaten Umfeldes in der koinonia politike/societas civilis, also der Sphäre des politisch-öffentlichen Gemeinwesens, zu engagieren. Damit wird in der Antike zwischen privater und öffentlicher Sphäre unterschieden, wobei Letztere als Bereich des politischen Gemeinwesens verstanden wird. Über die Jahrhunderte verändert sich die Begriffsbestimmung durch die Ausdifferenzierung der Sphäre des Öffentlichen. Die Kongruenz von staatlicher und öffentlicher Sphäre entzweit sich. Zur staatlich-herrschenden Sphäre tritt bei Denkern wie John Locke, Montesquieu, Adam Ferguson, Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Alexis de Tocqueville in unterschiedlichen Ausprägungen eine bürgerliche Sphäre hinzu. Diese konstituiert sich als der Raum der Selbstverwirklichung der Bürger*innen; sie werden zu den „Träger[*innen; CN] des zivilgesellschaftlichen Projekts“ (Adloff 2005, 23). Mit der Industrialisierung und der Entwicklung der markwirtschaftlich-kapitalistischen Sphäre zeichnet sich beispielsweise bei Antonio Gramsci und John Dewey eine Abgrenzungsbewegung gegenüber Staat und Markt ab, sodass zunehmend „nicht-staatliche und nicht-kapitalistische Assoziationen“ mit dem Begriff Zivilgesellschaft in Verbindung gebracht werden (Adloff 2005, 9).
Begriffsverwendung
Allgemein lässt sich feststellen, dass sich bei der heutigen Begriffsverwendung drei Hauptstränge herausgebildet haben (vgl. Jordan 2011, 94; Adloff 2005, 8–9). Erstens werden mit Zivilgesellschaft Formen des kollektiven Handelns gefasst. Dazu zählen beispielsweise Vereine, NGOs, Bürgerbewegungen oder eben auch die Kirchen. Zweitens werden mit dem Begriff bestimmte Normen eines guten, zivilen Zusammenlebens assoziiert. In dieser Lesart gelten beispielsweise Solidarität, gesellschaftliche Teilhabe oder Integrationskraft als Kennzeichen einer zivilen Gesellschaft. Drittens ist der Begriff ein Assoziationskonglomerat von utopischen Projekten. So bezeichnet beispielsweise Michael Walzer die Zivilgesellschaft „als Handlungsraum von Handlungsräumen: alle sind aufgenommen, keiner bevorzugt“ (Walzer 1995, 52). In diesem Definitionsstrang ist der Begriff stets verbunden mit Kritik „an obrigkeitlicher Gängelung und Unterdrückung […], an überlieferten Formen der Ungleichheit, […] Widerstand gegen die Überwältigung durch den siegreichen Kapitalismus wie im Gegenzug gegen die Fragmentierung und Entsolidarisierung der Gesellschaft“ (Kocka 2003, 32).
Querschnittsforschung Zivilgesellschaft
Im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs lässt sich seit der europäischen Umbruchszeit der späten 1980er- und 1990er-Jahre eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Zivilgesellschaft feststellen (vgl. Michalski 1991). Zunächst spielt dabei Kirche als Untersuchungsgegenstand keine Rolle. So kann der Historiker Jürgen Kocka (2000, 482) kurz nach der Jahrtausendwende Zivilgesellschaft als Modell einer „säkularisierten Gesellschaft freier und selbständiger Individuen“ beschreiben. Nach und nach werden in diesen Zusammenhängen auch Kirchen als Untersuchungsgegenstände mit berücksichtigt (vgl. Strachwitz et al. 2002; 2020; Adloff 2005; Liedhegener 2010). Gleichzeitig erfährt die theologische Auseinandersetzung mit der Zivilgesellschaft um die Jahrtausendwende einen Aufschwung. Ausgehend vom II. Vatikanischen Konzil als Wendepunkt des Kirche-Welt-Verhältnisses – Kirche wird nicht mehr als Gegensatz zur Welt, sondern als Kirche in der Welt verstanden (vgl. Haslinger 2009, 337–354) – wird eine aktiv-teilnehmende Position der Kirche in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit als theologisch legitim und notwendig bestimmt (vgl. Große Kracht 1997; Nothelle-Wildfeuer 1999; Lob-Hüdepohl 2002; Könemann 2002). Pastoraltheologische Aufmerksamkeit gewinnt das Thema durch die Dissertation von Jochen Ostheimer (vgl. 2008, 227). Hier fungiert Zivilgesellschaft als gesellschaftstheoretischer Referenzrahmen, um Kirche als soziale Institution gesellschaftlich zu verorten. An der Schnittstelle von Religionssoziologie und Theologie trägt Karl Gabriel dazu bei, dass Kirche zum einen hinsichtlich der theologischen Selbstbeschäftigung als zivilgesellschaftliche Akteurin in den Blick kommt und zum anderen als Untersuchungsgegenstand im Zivilgesellschaftsforschungsdiskurs Relevanz erfährt (vgl. Gabriel 1996, 2011 und 2023).
In der evangelischen Theologie ist die Auseinandersetzung mit dem Zivilgesellschaftsdiskurs stärker ausgeprägt. Vor allem zwei jüngere Veröffentlichungen setzen sich detailliert damit auseinander: David Ohlendorf und Hilke Rebenstorf in ihrer Untersuchung zu Kirchengemeinden und ihrer Rolle in der Zivilgesellschaft (vgl. 2019) und Adrian Micha Schleifenbaum mit seiner Dissertation zur Verbindung von evangelisch-theologischer Kirchentheorie und Zivilgesellschaft (vgl. 2021).
Pastoraltheologische Relevanz
Die theologische Auseinandersetzung mit der Zivilgesellschaftsforschung bietet diverse hermeneutische Brillen zur theologischen Betrachtung und Erforschung der Wirklichkeit. Besonders vor dem Hintergrund der Frage nach dem gesellschaftlichen Ort von Religion und Kirchen „stellt die Zivilgesellschaft eine empirische und analytische Kategorie im wissenschaftlichen Diskurs dar“ (Schroeder et al. 2023, 21). Die Forschungslage lädt dazu ein, die folgenden (und weitere) Themen zu bearbeiten:
Angesichts aktueller gesellschaftlicher, sozialer und kirchlicher Entwicklungen gewinnen die Fragen nach dem Zueinander von Kirche und Zivilgesellschaft und dem Selbstverständnis von Kirche als zivilgesellschaftlicher Akteurin an Bedeutung. Die theologische Brisanz wächst angesichts empirischer Erkenntnisse, wie sie beispielsweise die Sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hervorgebracht hat: Was bedeutet es und wie ist damit umzugehen, wenn die Kirchen laut den Autor*innen eine wichtige zivilgesellschaftliche Rolle spielen und die Demokratie stärken (vgl. EKD 2023, 88-93), sich aber gleichzeitig massiven Schwundphänomenen bei Mitgliederzahlen, finanziellen und personellen Ressourcen ausgesetzt sehen?
Den Kirchen wird weiterhin eine große soziale Bedeutung zugeschrieben, sie sind aufgrund ihres sozialen Engagements „zivilgesellschaftlich gefragt“ (Wunder et al. 2024a, 111). Gleichzeitig sind viele kirchliche Strukturen einem großen finanziellen Spardruck ausgesetzt. Wie kann diesen Herausforderungen theologisch und gesellschaftlich verantwortungsvoll begegnet werden?
Die Kirchen werden aufgrund der „überdurchschnittliche[n] Einbindung ihrer Mitglieder in unterschiedliche Felder des Engagements nach wie vor als strukturell unverzichtbare Größe der lebendigen Zivilgesellschaft“ betrachtet (Wunder et al. 2024b, 314). Welche theologischen und pastoralen Konsequenzen ergeben sich daraus, dass die für das soziale Gesamtgefüge der Gesellschaft (noch) unverzichtbare Größe im religiösen Bereich verzichtbar wird?
An welchen Stellen lassen sich Adaptionsprozesse hinsichtlich der Selbstbilder und Handlungsfelder von kirchlichen Akteur*innen feststellen, wenn diese sich auch als zivilgesellschaftliche Akteur*innen verstehen?
Die Beschäftigung mit der Zivilgesellschaftsforschung eröffnet zahlreiche Anknüpfungspunkte zu bedeutenden theologischen Diskursen. Dazu zählen die Sozialraumorientierung, die karitative und diakonische Theologie sowie die Öffentliche Theologie und Kirche (Public Theology/Churches). Letztlich stellt sich die interdisziplinäre Zivilgesellschaftsforschung als ein Bereich dar, der für die Praktische Theologie außerordentlich anschlussfähig ist. Für eine Theologie, die sich auch 50 Jahre nach dem Ende des II. Vatikanischen Konzils mit dem damals neuen Verständnis des Kirche-in-der-Welt-Seins auseinandersetzt, kann hier ein Feld für theologische Grundlagenforschung, empirische Tiefenbohrungen und interdisziplinäre Zusammenarbeit gedeihen.
Literatur
Adloff, Frank (2005). Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis. Frankfurt a. M., Campus.
Evangelische Kirche Deutschland (Hg.) (2023). Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt.
Gabriel, Karl (2023). Häutungen einer umstrittenen Institution. Zur Soziologie der katholischen Kirche. Frankfurt a. M., Campus.
Gabriel, Karl (2011). Kirchen in der Zivilgesellschaft. In: Eurich, Johannes/Barth, Florian/Baumann, Klaus/Wegner, Gerhard (Hg.). Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde. Stuttgart, Kohlhammer, 381–394.
Gabriel, Karl (1996). Religion und Kirche im Spiegel- und Diskursmodell von Öffentlichkeit. Jahrbuch für Biblische Theologie 11, 31–51.
Große Kracht, Hermann-Josef (1997). Kirche in ziviler Gesellschaft. Studien zur Konfliktgeschichte von katholischer Kirche und demokratischer Öffentlichkeit. Paderborn, Schöningh.
Haslinger, Herbert, Pastoraltheologie, Paderborn, Schöningh 2015.
Jordan, Lisa (2011). Global Civil Society. In: Edwards, Michael (Hg.). The Oxford Handbook of Civil Society. Oxford, Oxford University Press, 93-106.
Kocka, Jürgen (2000). Zivilgesellschaft als historisches Projekt. Moderne europäische Geschichtsforschung in vergleichender Absicht. In: Dipper, Christoph (Hg). Europäische Sozialgeschichte. Berlin, Duncker & Humblot, 475–484.
Kocka, Jürgen (2003). Zivilgesellschaft in historischer Perspektive. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 16 (2), 29–37.
Könemann, Judith (2002). „Ich wünschte, ich wäre gläubig, glaub‘ ich“. Zugänge zu Religion und Religiosität in der Lebensführung der späten Moderne. Opladen, Leske & Budrich.
Liedhegener, Antonius (2010). Churches and Denominations. In: Anheier, Helmut K./Toepler, Stefan. Churches and Denominations. In: International Encyclopedia of Civil Society. New York, Springer, 133–138.
Lob-Hüdepohl, Andreas (2002). Kirche in der Welt? – Theologische Bemerkungen zum Verhältnis von Glaubensbekenntnis und öffentlichem Wirken der Kirche heute. In: Strachwitz, Rupert Graf/Adloff, Frank/Schmidt, Susanna/Schneider, Maria-Luise (Hg.). Kirche zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Berlin, Maecenata, 43–62.
Michalski, Krzysztof (Hg.) (1991). Europa und die Civil Society. Stuttgart, Klett-Cotta.
Nothelle-Wildfeuer, Ursula (1999). Soziale Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft. Paderborn, Schöningh.
Ohlendorf, David/Rebenstorf, Hilke (2019). Überraschend offen. Kirchengemeinden in der Zivilgesellschaft. Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt.
Ostheimer, Jochen (2008). Zeichen der Zeit lesen. Erkenntnistheoretische Bedingungen einer praktisch-theologischen Gegenwartsanalyse. Stuttgart, Kohlhammer.
Schleifenbaum, Adrian Micha (2021). Kirche als Akteurin der Zivilgesellschaft. Eine zivilgesellschaftliche Kirchentheorie dargestellt an der Gemeinwesendiakonie und den Fresh Expressions of Church. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.
Schroeder, Wolfgang/Greef, Samuel/Elsen, Jennifer Ten/Heller, Lukas/Inkinen, Saara (2023). Einfallstor für rechts? Zivilgesellschaft und Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung (Sonderausgabe).
Strachwitz, Rupert Graf/Adloff, Frank/Schmidt, Susanna/Schneider, Maria-Luise (Hg.) (2002). Kirche zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Berlin Maecenata.
Strachwitz, Rupert Graf/Priller, Eckhard/Triebe, Benjamin (2020). Handbuch Zivilgesellschaft. Bonn, Bundeszentrale für Politische Bildung (Sonderausgabe).
Walzer, Michael (1995). Was heißt zivile Gesellschaft? In: Brink, Bert van den/Reijen, Willem van (Hg.). Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie. Frankfurt a.M., Suhrkamp, 44–72.
Wunder, Edgar/Ahrens, Petra-Angela/Eufinger, Veronika (2024). Engagieren und Mitentscheiden – innerhalb und außerhalb der Kirche. In: Sozialwissenschaftliches Institut der EKD/Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (Hg.). Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Relevanz von Religion und Kirche in der pluralen Gesellschaft. Analysen zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, 300–320.
Wunder, Edgar/Erichsen-Wendt, Friederike/Loffeld, Jan/Rahner, Johanna/Wischmeyer, Johannes/Zimmer, Miriam (2024). Vertrauenskrise und Reformerwartungen. Wo die Kirchen heute stehen. In: Sozialwissenschaftliches Institut der EKD/Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (Hg.). Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Relevanz von Religion und Kirche in der pluralen Gesellschaft. Analysen zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, 94–115.
Erstmals eingestellt am 07.05.2025 – zuletzt überarbeitet am 07.05.2025