Vulnerabilität

von Magdalena Hürten

In der Alltagssprache als Verletzlichkeit, Verletzbarkeit oder Verwundbarkeit bezeichnet, steht der Begriff der Vulnerabilität für „die Möglichkeit oder Potentialität, verletzt zu werden und Schaden zu erleiden“ (Keul 2021, 2). Dabei geht es weniger um eine bereits zugefügte Verletzung, sondern vielmehr darum, „wie die Erwartung oder Befürchtung von (weiteren) Wunden das Handeln von Menschen, Gemeinschaften, Institutionen, Staaten beeinflusst, oder beeinflussen kann oder beeinflussen sollte“ (Keul 2021, 41). Behandelt wird das Thema Vulnerabilität in einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen, von den Geisteswissenschaften bis hin zu den Naturwissenschaften.

Als Ausgangspunkt für die folgende Auseinandersetzung mit dem Thema Vulnerabilität wird der Ansatz der Theologin und Ethikerin Hille Haker herangezogen, der unterschiedliche Dimensionen der menschlichen Verletzlichkeit aufzeigt: Unter „ontologischer Vulnerabilität“ versteht sie eine allen Menschen gemeinsame Empfänglichkeit bzw. Offenheit gegenüber der Welt (vgl. Haker 2020, 139). Diese Offenheit bedingt aber auch die Möglichkeit von Verletzungen, da sich kein Mensch vollständig z. B. vor den Gewalten der Natur oder vor Ansteckungskrankheiten schützen kann. Auch die Dimension der „moralischen Vulnerabilität“ basiert auf einer grundlegenden Offenheit, allerdings nicht der Welt, sondern anderen Menschen gegenüber. Sie ergibt sich aus der allen Menschen eigenen Angewiesenheit auf Anerkennung und Zuwendung durch andere, die immer mit dem Risiko verbunden ist, durch das Verhalten anderer verletzt zu werden (vgl. Haker 2020, 140-144).[1] 

Während die ersten beiden Dimensionen als conditio humana angesehen werden können und die allgemeine Vulnerabilität von Menschen beschreiben, fügt Haker (2020, 151f.) ihrem Ansatz mit der „strukturellen Vulnerabilität“ eine Dimension hinzu, in der die besondere Verwundbarkeit von Menschen aufgrund bestimmter Faktoren („states“) berücksichtigt wird. Zu diesen Faktoren zählt sie z. B. Alter und Krankheit, aber auch Geschlecht oder Religion (vgl. Haker 2020, 151). Diese Dimension reflektiert, wie Vulnerabilität gesellschaftlich organisiert ist: Gesellschaftliche Strukturen, Normen, Diskurse und Regime tragen dazu bei, dass manche Menschen sich besonders gut vor Gefahren schützen können, andere dagegen mit hohen Risiken konfrontiert sind. Beispielsweise haben ungleich verteilte sozio-ökonomische Ressourcen einen entscheidenden Einfluss darauf, wie gut sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen vor den Folgen der Erderwärmung schützen können. Auch die amerikanische Philosophin Judith Butler betont die strukturelle Dimension, indem sie auf soziale und politische Strukturen und Diskurse hinweist, die entscheiden, wer überhaupt als vulnerabel (bei Butler auch „gefährdet“ oder „betrauerbar“) anerkannt wird und wer nicht (vgl. Butler 2010, 31f.). Als vulnerable Gruppe angesehen zu werden, ist somit bereits eine Form der Anerkennung, die nicht allen gleichermaßen zuteilwird, die aber die Voraussetzung dafür ist, dass Personen Schutz und Hilfe erhalten (vgl. Butler 2010, 13; 2021, 42).

Zunehmend in die Kritik geraten sind dagegen Ansätze (z. B. aus der medizinischen Forschung), die Vulnerabilität als ein Distinktionsmerkmal bestimmter Personen oder Gruppen betrachten. Sie werden aufgrund bestimmter Merkmale als besonders vulnerabel angesehen und von einem vermeintlich integren Normalzustand abgegrenzt. Diese distinktiven Ansätze werden kritisiert, weil sie strukturelle Ursachen und Machtverhältnisse sowie die Handlungsfähigkeit der vulnerablen Personen oder Gruppen vernachlässigen (vgl. Coors 2022, 5). Die als vulnerabel bezeichneten Personen erscheinen dadurch als defizitär und in einer passiven Opferrolle gefangen. Am Beispiel der Disability Studies kann dies verdeutlicht werden: Lange Zeit wurde die erhöhte Vulnerabilität von Menschen mit Behinderung auf körperliche oder mentale Beeinträchtigungen zurückgeführt, die als Defizit im Vergleich zu ableisierten Menschen angesehen wurden. Die Disability Studies haben jedoch dazu beigetragen, dass vermehrt Strukturen, Haltungen und Praktiken thematisiert werden, die Vulnerabilität oft erst erzeugen – seien es städtebauliche Barrieren oder ableistische Stereotype (vgl. Waldschmidt 2020, 20f.; 177f.).

In der Pastoraltheologie begegnet das Thema Vulnerabilität vor allem in drei Perspektiven: Als anthropologische Grundkonstante spielt sie in vielen Ansätzen, mehr oder weniger explizit, eine Rolle. Wie Ute Leimgruber (2020, 52) betont: „Es hat auch für die Pastoraltheologie und ihre Rede vom Menschen eine enorme Auswirkung, ob Menschsein im Sinne einer größtmöglichen Autonomie gedacht wird, oder ob man die fundamentale Angewiesenheit und Verletzbarkeit aller zum Ausgangspunkt pastoralen Handelns und Denkens macht“. Hinzu kommt die besondere Vulnerabilität von Menschen z. B. in herausfordernden Lebenssituationen, die als Adressat*innen von Seelsorge oder diakonischen Diensten in Betracht kommen (vgl. insb. die Theologie der Seelsorge von Andrea Bieler (2017)). In einer dritten Perspektive wird auch die Vulnerabilität der diakonisch bzw. seelsorglich Handelnden thematisiert. Diese wird als Öffnung und damit als Eingehen von Verwundbarkeit im Kontakt mit dem Gegenüber verstanden: „In dem Hineingehen in die Wunden der Zeit ereignen sich Weltzugewandtheit und Offenheit in Situationen und an Orten, wo Menschen um ihre Identität, Ganzheit, Gesundheit und ihr Heilsein ringen“ (Ganz 2021, 236). Birgit Hoyer (2011, 58) entwirft Vulnerabilität im Anschluss an die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes als zentralen Modus für Theologie und Kirche: „Verletzbarkeit bedeutet nicht nur, dass Theologie in ihrer Wissenschaftlichkeit ständig gefährdet ist, sondern verletzte Orte, Räume, Körper thematisiert, sich ihnen aussetzt, sich auf Gedeih und Verderb solidarisiert – soweit, dass sie selbst verletzt, in ihren Grundfesten berührt und verwandelt wird“. Vulnerabilität wird dabei nicht als etwas ausschließlich Negatives oder als Zustand der Passivität verstanden, sondern es wird die ermächtigende und transformierende Kraft betont, die in der Auseinandersetzung mit eigenen Vulnerabilitätserfahrungen bzw. der bewussten Vulnerabilisierung in der Öffnung auf andere hin liegen kann.

Dabei bleiben jedoch häufig die Schattenseiten der Verwundbarkeit sowie die Ursachen struktureller Vulnerabilität unbeachtet. Hildegund Keul, die in den letzten Jahren intensiv zu Vulnerabilität gearbeitet hat, hat sich besonders darum verdient gemacht, die Ambivalenzen des Phänomens aufzuzeigen. Neben der „Schöpfung durch Verlust“ (Keul 2021) gehört auch dazu, dass Vulnerabilität zu einer Verstärkung von Schutzstrategien und damit zu einer erhöhten Vulneranz, d. h. Verletzungsmacht bzw. -bereitschaft, führen kann (vgl. Keul 2022, 2). Diese Erkenntnis gewinnt angesichts des Missbrauchs in der katholischen Kirche besondere Relevanz. Zu oft wurde die Vulnerabilität der Betroffenen aufgrund von Alter, Geschlecht, Lebenssituation oder gewaltsamen Vorerfahrungen ausgenutzt, um Missbrauch anzubahnen und unter dem Deckmantel der Heilung durchzuführen. Vor diesem Hintergrund ist pastoraltheologisch zu reflektieren, welche Vulnerabilitäten in Praxiskontexten wie der Krankenhaus- oder Beichtseelsorge bestehen (vgl. Karl 2021; 2023), welche Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse daraus resultieren und wie verantwortungsvoll mit ihnen umgegangen werden kann. Ute Leimgruber (2022, 190) spricht von der „Vulneranz von Seelsorgesettings“, um die strukturellen und institutionellen Faktoren zu benennen, die Missbrauch begünstigen. Räumliche Bedingungen, Rituale, spirituelle Praktiken und theologisch aufgeladene Geschlechter- und Rollenbilder können strukturelle Vulnerabilität erzeugen, reproduzieren oder verstärken, wenn sie mangelnde Schutz- und Kontrollmechanismen aufweisen, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zementieren, in Opfer-Spiralen führen (vgl. Keul 2022, 7f.) oder nicht traumasensibel gestaltet sind (vgl. Leimgruber 2022, 198). Aufgabe der Pastoraltheologie ist angesichts dessen eine kritische

Reflexion selbstverständlich gewordener Praktiken und Strukturen und der Austausch mit den übrigen theologischen Disziplinen über fragwürdig gewordene Glaubenshandlungen und -inhalte. Ihr kommt darin eine Wächterfunktion zu, indem sie überprüft, ob christlicher Glaube in seinen verschiedenen Facetten befreiend wirkt oder in Fremdbestimmung, Selbstaufgabe und Abhängigkeit führt.

Literatur

Bieler, Andrea (2017). Verletzliches Leben. Horizonte einer Theologie der Seelsorge (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 90). Göttingen/Bristol, Vandenhoeck & Ruprecht.

Butler, Judith (2010). Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a. M., Campus.

Butler Judith (2021). Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen. 2. Aufl. Suhrkamp, Berlin.

Coors, Michael (2022). Einleitung: Menschliche Verletzlichkeit, „vulnerable Gruppen“ und die Moral. Fragestellungen eines Diskursprojektes. In: Coors, Michael (Hg.). Moralische Dimensionen der Verletzlichkeit des Menschen. Interdisziplinäre Perspektiven auf einen anthropologischen Grundbegriff und seine Relevanz für die Medizinethik (Humanprojekt 19). Berlin, De Gruyter, 1-23.

Haker, Hille (2020). Towards a Critical Political Ethics. Catholic Ethics and Social Challenges (Studien zur theologischen Ethik 156). Basel/Würzburg, Schwabe/Echter.

Hoyer, Birgit (2011). Seelsorge auf dem Land. Räume verletzbarer Theologie (Praktische Theologie heute 119). Stuttgart, Kohlhammer.

Karl, Katharina (2021). Verletzlichkeit als Schlüsselkategorie der Beichtseelsorge. Ein pastoraltheologischer Ausblick. In: Karl, Katharina/Weber, Harald (Hg.). Missbrauch und Beichte. Erfahrungen und Perspektiven aus Praxis und Wissenschaft. Würzburg, Echter, 169-182.

Karl, Katharina (2023). Fragil und machtvoll. Wahrnehmungen von Vulnerabilität in der Seelsorge im Bereich der Pflege. Wege zum Menschen 75, 346-357

Keul, Hildegund (2021). Schöpfung durch Verlust. Bd 1: Vulnerabilität, Vulneranz und Selbstverschwendung nach Georges Batailles. Würzburg, University Press, https://doi.org/10.25972/WUP-978-3-95826-159-4.

Keul, Hildegund (2022). Vulnerability, Vulnerance and Resilience – Spiritual Abuse and Sexual Violence in New Spiritual Communities. Religions 13 (5), 425, https://doi.org/10.3390/rel13050425.

Leimgruber, Ute (2020). „Unsere Chance … menschlich zu werden“. Anstöße aus der Lektüre Judith Butlers für die pastoral-theologische Rede von Menschen und Macht. In: Grümme, Bernhard/Werner, Gunda (Hg.). Judith Butler und die Theologie. Herausforderung und Rezeption (Religionswissenschaft 15). Bielefeld, transcript, 43-62.

Leimgruber, Ute (2022). Die Vulneranz von Seelsorgesettings im Blick auf den sexuellen Missbrauch erwachsener Personen. In: Dirscherl, Erwin/Weißer, Markus (Hg.). Wirksame Zeichen und Werkzeuge des Heils? Aktuelle Anfragen an die traditionelle Sakramententheologie (Quaestiones Disputatae 321). Freiburg i. Br., Herder, 188-204.

Stöhr, Robert et al. (Hg.) (2019). Schlüsselwerke der Vulnerabilitätsforschung. Wiesbaden, Springer.

Waldschmidt, Anne (2020). Disability Studies zur Einführung. Hamburg, Junius.


[1] Eine zentrale Rolle spielt diese Annahme auch in philosophischen Konzeptionen des Subjekts, die seit dem 20. Jahrhundert entstanden sind, z. B. bei dem in der Theologie breit rezipierten jüdischen Philosophen Emanuel Lévinas, aber auch bei Judith Butler (vgl. Stöhr et al. 2019).

Erstmals eingestellt am 03.03.2025 – zuletzt überarbeitet am 03.03.2025

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