von Simon Linder
Der Begriff Open Source[1] bezeichnet Software, die drei Merkmale auszeichnet: Erstens liegt die Software in lesbarer und verständlicher Form vor, der Quellcode ist also offen; zweitens darf die Software beliebig kopiert, verbreitet und genutzt werden; drittens darf sie (grundsätzlich) verändert und in veränderter Form weitergegeben werden (vgl. Open Source Initiative). Als Stärken von Open-Source-Software geben Nutzer*innen an, dass offene Standards eingehalten werden, dass ein Wissensaustausch mit der Community möglich ist, dass Kosten eingespart werden können und dass die Abhängigkeit von Lieferanten verringert werden kann (vgl. swissICT und Swiss Open Systems User Group, 1). Häufig ist Open-Source-Software kostenlos, wie das PC-Betriebssystem Linux, der Browser Firefox, der Media-Player VLC oder die Office-Suite OpenOffice.
Der Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder benennt drei Grundformen der digitalen Realität:
- Referentialität definiert er als „Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion“ (Stalder 2017, 13);
- Gemeinschaftlichkeit definiert er im Kontrast zur „traditionellen dörflichen Gemeinschaft“ (Stalder 2017, 132), die er als „strukturkonservativ“ (Stalder 2017, 132) bezeichnet, über „das gemeinschaftliche Erstellen, Bewahren und Verändern des interpretativen Rahmens, in dem Handlungen, Prozesse und Objekte eine feste Bedeutung und Verbindlichkeit erlangen“ (Stalder 2017, 137);
- Algorithmizität definiert er als „wachsende Bedeutung komplexer Technologien als Grundlage des Alltags“ (Stalder 2017, 12), denn gäbe es bei der Fülle verfügbarer Daten keine maschinelle Vorsortierung, wären diese Daten für die meisten Menschen nicht nutzbar (vgl. Stalder 2017, 12).
Open Source ist deshalb so beliebt, weil es den Zeichen der digitalen Zeit gerecht wird:
- der Referentialität, indem der Code weiterentwickelt und so auf bestimmte Situationen angepasst werden kann;
- der Gemeinschaftlichkeit, indem es auf ein Netzwerk von fähigen Personen setzt, das sich jederzeit verändern kann, ohne dass signifikantes Wissen verloren geht;
- und der Algorithmizität, indem es durch technische Neuerungen für Nutzer*innen Handlungsoptionen entwickelt.[2]
Könnte Partizipation in Kirche nun ähnlich gestaltet werden wie der Aufbau von Open Source?
Zunächst zum Begriff „Partizipation“: Werden die lateinischen Bestandteile des Wortes, nämlich pars und capere, wortgetreu übersetzt, bedeutet partizipieren: „einen Teil (weg-)nehmen“. Das heißt: Partizipation ist nicht als Entwicklung von Strategien, wie Gläubige durch Mitbestimmungsmöglichkeiten eingebunden werden können, zu denken. Sondern es geht ganz im Gegenteil darum, wie Gläubige sich ihren Teil von Kirche nehmen und diesen gestalten können. Partizipation ist also Selbstermächtigung – und damit keineswegs harmlos. Partizipieren Menschen, dann „kapern“ sie einen Teil einer Sache. Wird diese Vorstellung von Partizipation nun mit dem Open-Source-Gedanken verbunden, bedeutet das: maximale Offenheit für neue Ideen, ohne dabei jedoch auf eine Begründungspflicht für das eigene Handeln zu verzichten.
Die offene Quelle, mit der Christ*innen referentiell arbeiten, ist die Botschaft Jesu. Das Evangelium ist Open Source. Schon im frühen Christentum wurde nichts geheim gehalten – es gab keine Arkandisziplin, also keine „Geheimhaltung von bestimmen Riten, Gegenständen und Bekenntnissen“ (Metzger) zur „Abgrenzung […] nach außen und [zum] engeren Zusammenhalt nach innen“ (Metzger). Wie der Code einer Open-Source-Software kann das Evangelium von allen Interessierten gelesen werden. Der Zugriff ist über Bibliotheken, Buchhandlungen und Internetseiten gesichert. Selbstverständlich braucht es für ein Verständnis der Botschaft Jesu einen Zugangsweg – sei es eher praktisch über spirituelle Erfahrungen bzw. in ganz konkreten Alltagssituationen oder eher theoretisch über die Theologie. Das unterscheidet den Umgang mit dem Evangelium allerdings nicht vom Umgang mit Open-Source-Programmen – auch hier muss zunächst eine Programmiersprache erlernt werden, um den Code zu verstehen und damit arbeiten zu können. Wer sich die Programmiersprache des Evangeliums angeeignet hat und die Botschaft Jesu aus den Erzählungen herausfiltern kann, dem wird es möglich, das eigene Leben nach dem Evangelium auszurichten. Christ*innen arbeiten referentiell, wenn sie die Botschaft Jesu in die eigene Lebensrealität übersetzen. Sie nehmen ein Aggiornamento vor, das bei Open-Source-Programmen ebenso notwendig ist: Ohne Updates bleibt kein Programm aktuell und dauerhaft nutzbar.
Außerdem sind Open-Source-Programme individuell anpassbar. Wer in der Lage ist, den Code weiterzuentwickeln, kann dem Programm neue Bedeutung verschaffen. Diese Ergänzung wird dann meist weiterverbreitet, sodass andere Nutzer*innen davon profitieren können (vgl. Open Source Initiative). Diese referentielle Arbeit kann so geschehen, wie es in der Digitalität üblich ist: kurzzeitig und projektorientiert. Wer möchte, steigt in das Projekt ein, wer nicht, sucht sich ein anderes oder gründet ein eigenes.[3] So wird Tradition geprägt, denn „Tradition ist die erinnerte Geschichte der innovativen Entdeckungen unserer Väter und Mütter im Glauben“ (Bucher). Das, was vor unserer Zeit gemacht wurde, gestalten wir weiter und schaffen dabei Neues, das in unsere Zeit mit unseren individuellen Zeichen passt. Da jedoch nicht jede Ergänzung des Programms für alle Nutzer*innen gleich sinnvoll ist, müssen nicht alle diese Neuerung installieren.
Eine Basis des Programms, der Kernel, bleibt trotz aller Veränderungen immer erkennbar – würde dieser umgeschrieben, handelte es sich um ein neues Programm. Die weitere Bearbeitung eines Programms geschieht also auf einer gemeinsamen Basis, verläuft dabei aber in ganz unterschiedliche Richtungen, um möglichst vielen Menschen passende Handlungsoptionen anbieten zu können (vgl. Stalder 2017, 259). Dies könnte auch Partizipation in Kirche leisten: Menschen werden auf Basis des Evangeliums auf ganz verschiedene Weise tätig. Alle Partizipierenden tragen, wie vom Zweiten Vatikanischen Konzil gefordert (vgl. LG 31), die Botschaft Jesu in die heutige Zeit. Es gibt also eine Fixierung auf das Heute. Genauso verhält es sich bei Open-Source-Programmen: Diese sind erfolgreich, wenn sie Probleme lösen, die heute bestehen. Ein Problem, das morgen möglicherweise entstehen könnte, muss heute noch nicht gelöst werden. Open-Source-Programme leben von einer radikalen Fokussierung auf die Gegenwart bei gleichzeitig maximaler Offenheit für die Zukunft. Genauso könnte Partizipation in Kirche funktionieren: mit einer radikalen Fixierung auf die Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art (vgl. GS 1). Das Volk Gottes pilgert auf seinem Weg durch die Zeit, und die Herausforderungen, die dieser Weg bereithält, werden morgen andere sein als heute.
Literatur
Bucher, Rainer. Aus pastoraltheologischer Sicht. Interviewt von Martin Merz. Bund Neudeutschland, 2015. https://www.nd-netz.de/synode/id-1-grundlegungen/aus-pastoraltheologischer-sicht.html.
Free Software Foundation. „The Free Software Foundation (FSF) is a nonprofit with a worldwide mission to promote computer user freedom. We defend the rights of all software users.“ Zugegriffen 19. März 2018. https://www.fsf.org/about/.
Metzger, Paul. „Arkandisziplin“. In WiBiLex, Dezember 2020. https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/49934/.
Open Source Initiative. „The Open Source Definition (Annotated)“. Zugegriffen 15. März 2018. https://opensource.org/osd-annotated.
Stalder, Felix (2017). Kultur der Digitalität. 2. Aufl. Berlin: Suhrkamp.
swissICT und Swiss Open Systems User Group, Hrsg. „Open Source Studie: Schweiz 2015“, 3. Juni 2015. http://www.swissict.ch/fileadmin/customer/Publikationen/OSS-Studie2015.pdf.
Ward, Peter (2013). Liquid Church. Eugene, OR: Wipf and Stock.
[1] Open Source basiert auf einer Initiative der Open Source Initiative. Daneben gibt es ähnliche Initiativen, beispielsweise die Freie Software der Free Software Foundation (vgl. „Free Software Foundation / about“.). An dieser Stelle auf technische Einzelheiten und Unterschiede einzugehen, wäre allerdings nicht zielführend; die Auseinandersetzung mit diesem Thema betrifft hier grundsätzliche Handlungsweisen.
[2] Wegen des Erfolgs im Bereich von Software wurde der Open-Source-Gedanke inzwischen in anderen Bereichen adaptiert. Beispiele dafür sind Open Access (https://open-access.net/informationen-zu-open-access/, zuletzt abgerufen am 18.02.2018), das für freien Zugang zu wissenschaftlicher Literatur wirbt, oder Open Government (https://www.bmi.bund.de/DE/themen/moderne-verwaltung/open-government/open-government-node.html, zuletzt abgerufen am 18.02.2018), das Regierung und Verwaltung gegenüber Bevölkerung und Wirtschaft transparenter machen möchte.
[3] Pete Ward beschreibt eine individuellere Gestaltung des eigenen Glaubenslebens folgendermaßen: „This is not simply individualized spiritual experience, because the connection to Christ initiates a connection with one another.” (Ward 2013, 39.)