Literaturtheologie

von Alissa Geisler

Theolog:innen beschäftigen sich seit Jahrhunderten mit Literatur oder verfassen sogar selbst welche, doch dass sie diese „in ihre theologische[n] Konzeptionen integriert haben, dass Literatur zentraler und eigenständiger Bestandteil ihres theologischen Denkens wurde, ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts“ (Langenhorst 2016, 17). Für diese theologische Auseinandersetzung mit Literatur hat sich der Begriff Literaturtheologie etabliert. In ihrem Kontext werden literaturwissenschaftliche Methoden mit theologischen Fragestellungen verknüpft, um neue Einsichten in die Bedeutung und Relevanz religiöser Zusammenhänge zu gewinnen. Literaturtheologie zielt u.a. darauf ab, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Literatur und Theologie zu erforschen und zu verstehen. Sie betont die Bedeutung von literarischen Texten als Quellen theologischer Reflexion und Erkenntnis.

Entwicklungslinien

Georg Langenhorst (vgl. 2011b, 149), Theologe und Philologe, stellt die ursprüngliche Verbundenheit von Religion und Literatur heraus. Einerseits sei diese Verbindung durch die Berufung auf heilige Schriften, „die selbst einen hohen weltliterarischen Rang einnehmen“, zu begründen, andererseits durch die Entwicklung der neuzeitlichen Nationalliteraturen mit stets engem Bezug zur Religion (vgl. Langenhorst 2011b, 149). Folkart Wittekind (2023, 205), der Forschungsparadigmen für den Bereich Literaturtheologie vorschlägt, fasst die Wahrnehmung von Kunst und Religion noch bis ins 19. Jahrhundert unter die Annahme einer „funktional-teleologischen Identifizierung“. Eine Auseinanderentwicklung wird laut Wittekind (vgl. 2023, 209) erst mit Auflösung des gemeinsamen, christlich bestimmten Rahmens zu Beginn des 20. Jahrhunderts sichtbar. Die durch diese Auflösung entstandene Differenz macht dann für beide Bereiche, Religion und Literatur, eine eigene Profilierung erforderlich.

Erst durch die autonom gewordenen Sphären werden die Voraussetzungen für eine Literaturtheologie, die ja deren Verhältnis zu beschreiben versucht, geschaffen. Die Bestimmung des jeweils Eigenen geht mit dem Versuch der jeweiligen Wissenschaften einher, das nun Andere zu dominieren, indem auf „Vereinnahmungs- und Vereindeutigungsstrategien“ (Wittekind 2023, 210) zurückgegriffen wird, wofür Wittekind den Begriff des „Subordinierungsparadigmas“ (Wittekind 2023, 210) bemüht.

In dieses einordnen lässt sich u.a. Paul Tillichs Theologie der Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der man zumindest indirekt Verhältnisbeschreibungen von Literatur und Theologie entnehmen kann. In Tillichs Werk wird vom Prinzip der Korrelation ausgegangen: „Die Methode der Korrelation erklärt die Inhalte des christlichen Glaubens durch existentielles Fragen und theologisches Antworten in wechselseitiger Abhängigkeit“ (Tillich 2017 [1951], 65). Für die Analyse der menschlichen Situation dient laut Tillich (2017, 68) jenes Material, „das die menschliche Selbstinterpretation auf allen Kulturgebieten verfügbar gemacht hat. Die Philosophie trägt dazu bei, ebenso die Dichtkunst, die dramatische und epische Literatur […]“. Das von Tillich erwogene Frage-Antwort-Schema zwischen Literatur und Theologie verläuft jedoch einseitig: Literatur könne existenzielle Fragen formulieren, Theologie auf diese antworten. In modifizierter Form ist die Korrelation zu einem entscheidenden Prinzip der gegenwärtigen Religionsdidaktik avanciert (vgl. Hoffmann/Otten/Sajak 2022), worin sich eine nicht unerhebliche Wirkmächtigkeit von Tillichs Überlegungen erweist.

Zu Beginn der 1970er Jahre zeigt sich in der Diskussion um das Verhältnis von Theologie und Literatur der Beginn einer Neuausrichtung, die Langenhorst (2005, 49) mit dem Schlagwort „Dialogparadigma“ überschreibt. Anliegen der Konzepte innerhalb dieses Paradigmas ist es, das ästhetische Proprium der literarischen Werke zu achten und deshalb die „Auseinandersetzung mit Literatur dialogisch kreativ, prozessorientiert und in ständiger Beachtung der unauflösbaren Einheit von Form und Inhalt aufzunehmen“ (Langenhorst 2005, 49). Prägend für diese neue Orientierung wirkt im katholischen Kontext die Pastoralkonstitution Gaudium et spes (1965), in der zur Frage nach der Bedeutung von Literatur und Kunst Haltung bezogen wird:

„Auf ihre Weise sind auch Literatur und Kunst für das Leben der Kirche von großer Bedeutung. Denn sie bemühen sich um das Verständnis des eigentümlichen Wesens des Menschen, seiner Probleme und seiner Erfahrungen bei dem Versuch, sich selbst und die Welt zu erkennen und zu vollenden; sie gehen darauf aus, die Situation des Menschen in Geschichte und Universum zu erhellen, sein Elend und seine Freude, seine Not und seine Kraft zu schildern und ein besseres Los des Menschen vorausahnen zu lassen. So dienen sie der Erhebung des Menschen in seinem Leben in vielfältigen Formen je nach Zeit und Land, das sie darstellen.“ (GS 62)

Hier wird der Literatur also große heuristische Wirkkraft zugemessen, ihr die Eröffnung einer verheißungsvollen Zukunftsperspektive zugetraut, freilich ganz ohne Unterschied zur Kunst anderer Materialien und Kodierungsformen. Im „evangelischen Bereich [war, A.G.] die Überwindung der kategorialen Trennung von Ästhetik und Ethik, von Literatur und Glaube, wie sie im Gefolge der Kierkegaard-Rezeption lange Zeit vorherrschend war“ (Langenhorst 2005, 49), laut Langenhorst ausschlaggebend für den paradigmatischen Wandel.

Mit ihrer germanistischen Habilitationsschrift „Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung“ verdeutlicht Dorothee Sölle 1970 die Dringlichkeit eines Bezugs von Theologie zu literarischer Sprache. In ihrem Konzept der „Realisation“ greift Sölle die Ansätze von Vordenkern wie Paul Tillich, Albrecht Schöne und Erich Auerbach auf: „Wir gehen hier von den Voraussetzungen aus, dass sich das unbedingt Angehende, ‚the ultimate concern‘, im Kunstwerk verbirgt und die Theologie die Aufgabe hat, dieses Verborgene zu entdecken. Sie findet in der Sprache der Kunst eine nicht-religiöse Interpretation der religiösen Erfahrungen und der theologischen Begriffe“ (Sölle 1973, 20f.). Sölle postuliert die Literatur als ästhetische Vermittlungsform des Absoluten, auf welche die Theologie, will sie gegenwärtig bleiben, unbedingt angewiesen sei, und glaubt in der Literatur eine nicht-religiöse Interpretation theologischer Begriffe verwirklicht.

1978 veröffentlicht Karl-Josef Kuschel seine Dissertation „Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ und ist seitdem prägend am Diskurs um Theologie und Literatur beteiligt. Er ist der Überzeugung, dass Literatur und Theologie sich gegenseitig herausfordern und sich so zum kritischen Korrektiv werden können, denn beiden gehe es um die „Darstellung der Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt“ (Kuschel 1978, 4).

Langenhorst reflektiert bereits 2005 die von ihm aufgebrachte Bezeichnung „Dialogparadigma“ selbst kritisch, indem er auf das dominierende Interesse der Theologie an Literatur verweist, das auf Seite der Literaturwissenschaft mit Blick auf Religion keine Entsprechung finde (vgl. Langenhorst 2005, 214). Gegenläufig betonen jüngere Publikationen nun „ein neues literaturwissenschaftliches Interesse an der christlichen Religion – nicht der Theologie! […]“ (Wittekind 2023, 220), das auch in von Literaturwissenschaftler:innen und Theolog:innen gemeinsam verantworteten Publikationen Ausdruck findet (vgl. Grözinger et al. 2009, Weidner/Mauz 2023).

Praktisch-theologische Perspektiven auf den Umgang mit Literatur

In der kirchlichen Praxis zeigt sich ein vielfältiger Umgang mit Literatur, bspw. in Predigten, aber auch in Kalendern, Meditationen etc. Christoph Gellner (2023, 229; Hervorh. i. Orig.) stellt die Relevanz von Literatur für eine „zeitsensible Pastoral der Entdeckung“ heraus und fordert deshalb, diese „als zeitdiagnostische Erfahrungsquelle, unerlässliches Ferment und kritisches Korrektiv religiös-theologischer Wirklichkeitsdeutung in die theologische Arbeit einzubeziehen“. Besonders stark sind die Einflüsse in der Religionspädagogik mit Blick auf den Religionsunterricht und die Erwachsenenbildung. Langenhorst (vgl. 2011a, 57-64) konkretisiert Chancen in fünf „Gewinndimensionen“ für religiöse Lernprozesse, welche die Auseinandersetzung mit Literatur fokussieren:

  • Textspiegelung: Die literarische Verarbeitung biblischer oder religiöser Stoffe kann den Blick für die Glaubenstradition verändern bzw. schärfen.
  • Sprachsensibilisierung: Die Auseinandersetzung mit Literatur kann zur Sensibilisierung für Sprache im Allgemeinen, für religiöse und literarische Sprache im Besonderen und zur Reflexion des eigenen Sprachgebrauchs beitragen.
  • Erfahrungserweiterung: Der Umgang mit Literatur ermöglicht (zumindest vermittelt) den Zugang zur Erfahrung anderer.
  • Wirklichkeitserschließung: Ein literarischer Text kann die Lesenden zu Wirklichkeitsdeutungen anregen.
  • Möglichkeitsandeutung: Literatur kann über erfahrene Wirklichkeit hinaus das Andere oder Unendliche andeuten.

Mit Bezug zur Gegenwartsliteratur wird in jüngeren Publikationen auch deren Potential für interreligiöse Lernprozesse exemplarisch herausgestellt (vgl. Gellner/Langenhorst 2013 und Langenhorst 2014). Diesem Potential im Rahmen weiterer, interdisziplinär vernetzter Forschung nachzugehen, könnte ein Auftrag für die Literaturtheologie im 21. Jahrhundert sein.

Literatur

Gellner, Christoph (2023). Theologie und Literatur. Eine Zwischenbilanz angesichts neuerer Verschiebungen im religiösen Feld. Literatur und Religion 6, 223–243. doi:10.1007/978-3-662-66842-9_12.

Gellner, Christoph/Langenhorst, Georg (2013). Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten. Ostfildern, Patmos.

Grözinger, Albrecht/Mauz, Andreas/Portmann, Adrian (Hg.) (2009).- Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liaison (Interpretation Interdisziplinär Bd. 6). Würzburg, Königshausen & Neumann.

Hofmann, Marcus/Otten, Gabriele/Sajak, Clauß (22022). Schritt für Schritt zum guten Religionsunterricht. Praxisbuch für Studium, Referendariat und Berufseinstieg. Hannover, Klett Kallmeyer.

Kuschel, Karl-Josef (41978). Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Ökumenische Theologie, Bd. 1). Zürich/Gütersloh, Benziger.

Langenhorst, Georg (2016). Theologische Beschäftigung mit Literatur. In: Weidner, Daniel (Hg.). Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart, Metzler, 17–25.

Langenhorst, Georg (22014). Ich gönne mir das Wort Gott. Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur. Freiburg/Basel/Wien, Herder.

Langenhorst, Georg (2011a). Literarische Texte im Religionsunterricht. Ein Handbuch für die Praxis. Freiburg, Herder.

Langenhorst, Georg (2011b). Theologie und Literatur: Geschichte, Hermeneutik, Programm aus europäischer Perspektive. TeoLiterária: Revista Brasilierade Literaturas e Teologias 1 (1), 148–168. doi:10.19143/2236-9937.2016v1n1p148-168.

Langenhorst, Georg (2005). Theologie und Literatur. Ein Handbuch. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Mauz, Andreas/Weidner, Daniel (Hg.) (2023). Literatur und Religion. Paradigmen der Forschung (Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion, Bd. 6). Berlin/Heidelberg, Metzler.

Sölle, Dorothee (1973). Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung, zugl.: Köln, Univ., Habil.-Schr., 1971 (Sammlung Luchterhand, Bd. 124). Darmstadt, Luchterhand.

Tillich, Paul (92017). Systematische Theologie I-II (De Gruyter Texte). Herausgegeben und eingeleitet von Christian Denz. Berlin/Boston, De Gruyter.

Weidner, Daniel (Hg.) (2016). Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart, Metzler.

Wittekind, Folkart (2023). Paradigmen der Literaturtheologie im 20. Jahrhundert. In: Mauz, Andreas/Weidner, Daniel (Hg.). Literatur und Religion. Paradigmen der Forschung (Studien zu Literatur und Religion, Bd. 6). Berlin/Heidelberg, Metzler, 201–222.

Erstmals eingestellt am 05.06.2025 – zuletzt überarbeitet am 05.06.2025

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