Kirchenkrise

von Florian Kunz

Krise

Das Schlagwort „Krise“ ist ein Passepartout, das vielfältige Beobachtungen, Deutungen und Erfahrungen aus verschiedenen Kontexten der Gegenwartsgesellschaft rahmt (vgl. Fenske u.a. 2013, 7).

Begriff

Der Begriff „Krise“ stammt von dem griechischen krisís ab und steht in seiner ursprünglichen Bedeutung für eine Situation der Entscheidung bzw. eine entscheidende Wendung (vgl. Dudenredaktion). Krisen setzen Routinen außer Kraft und bedürfen daher erhöhter Aufmerksamkeit, denn mit ihnen sind lebensrelevante Entscheidungen verknüpft (vgl. Grözinger 2010, 355). Krisen stehen in Zusammenhang mit einer allgemeinen Entscheidung; aber auch mit richterlichen, militärischen oder gar göttlichen Entscheidungssituationen, bei denen es um Recht/Unrecht, Sieg/Niederlage, Leben/Tod oder Heil/Unheil geht (vgl. Ollig 1993-2001). Im Koine-Griechisch steht krisís für „Gerichtsverfahren; Verurteilung; Strafgericht; Strafe; Recht, Gericht; Gerichtshof“ (Kassühlke 2005, 110). Seit der griechischen Antike bis hinein in die Neuzeit war von Krise im juristischen, theologischen und vor allem im medizinischen Bereich die Rede (vgl. Koselleck 1982, 617).

Neuzeitlich werden mit dem Krisenbegriff einerseits zunehmend fortschrittlich- oder verfallstheoretisch gedeutete Prozesse in Gesellschaft, Politik, Ökonomie oder Religion belegt. Andererseits steht Krise in einem geschichtsphilosophischen Sinn für eine Epochenwende oder gewinnt existentielle Relevanz in anthropologischen Entwürfen, denkt man an Lebenskrisen inneren oder äußeren Ursprungs (vgl. Ollig 1993-2001). Im heutigen Sprachgebrauch kommt dem Begriff der „Krise“ eine Reihe von Bedeutungen zu, wenn damit etwa eine schwierige Lage, gefährliche Situation oder kritische Zeit gemeint ist, die den Höhe- oder Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt. Der Blick auf die mit dem Begriff verbundenen Synonyme wie Ausweglosigkeit, Dilemma, Tiefpunkt oder Zwangslage hinterlassen einen negativen Eindruck (vgl. Dudenredaktion). Der Begriff „Krise“ ist nicht zu verwechseln mit plötzlich hereinbrechenden Katastrophen. Während der Begriff „Katastrophe“ für ein punktuelles Ereignis steht, bezeichnet Krise eine dynamische Entwicklung mit oftmals unüberschaubaren Folgen (vgl. Hülk 2013, 116).

Pastoraltheologische Bedeutung

Im praktisch-theologischen Bereich herrscht kein Mangel an Krisenhermeneutik. Der Diskurs scheint unübersichtlich und nur schwer systematisierbar, da „die Krise multifaktoriell und zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten durchaus pluriform bzw. ungleichzeitig daherkommt“ (Sobetzko 2021, 11).

In pastoraltheologischer Reflexion ist die jeweilige Krisenhermeneutik danach zu befragen, wer aus welcher Position heraus und auf Basis welchen Mindsets eine Krise beobachtet;  wer oder was von diesem Beobachter und seinem Mindset aus als in der Krise befindlich beschrieben wird; welche Relationen die Krisendeutung aufspannt;  auf welches Problem ein mögliches Lösungsmuster reagiert und ob die Lösung überhaupt zum Problem passt; welche verdeckte oder offene Theologie sowohl mit der Krisenanzeige wie den Lösungen kommuniziert wird; ob es sich bei dem beobachten Problem überhaupt um ein Problem handelt, das gelöst werden kann; um ein Dilemma, das man nur falsch entscheiden kann oder um ein Paradox, dass es auszuhalten bzw. zu dem es sich zu verhalten gilt.

Faktisch befinden sich die Kirche(n) in der Bundesrepublik vor allem vor dem Hintergrund eines konstruierten Normalzustandes schon seit Jahrzehnten in der Krise (vgl. Bucher 1998; vgl. Großbölting 2013, 21ff.). Der Babyboom in der Nachkriegszeit, das Wirtschaftswunder und die Stellung als moralische und integrierende Instanz nach den Erschütterungen des Zweiten Weltkrieges ermöglichte es den Kirchen zunächst, ihre gesellschaftliche Position und ihre Organisationsgestalt gewaltig auszubauen. Der Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse zeigt jedoch negative Folgen für die gesellschaftliche Position und die Organisationsgestalt, die nicht selten als Niederlage gedeutet werden. Dazu zählt insbesondere der Abschied von 1600 Jahren gesellschaftlicher, religiöser und biografischer Macht; auf institutioneller Ebene der Abschied der Kirche als sakraler Herrschaftsverband und auf individueller Ebene vielfach der Bedeutungsverlust einer quasifamilären Glaubensgemeinschaft. Die Fokussierung auf die Konstruktion eines in einer verklärten Vergangenheit fixierten Normalzustandes und alle Versuche, sich in den Reformversuchen daran zu orientieren, legen letztlich die Sorge der Organisation um sich selbst offen und bergen die Gefahr, dass sie sich selbst zum Inhalt der Zukunft erklärt.

Angesichts einer scheinbar kaum mehr zu planenden und ungewissen Zukunft konstituiert sich die Krise zudem als Handlungskrise. Andererseits fordert die Krise als ekklesiologisch signifikanter Moment im Sinne der Zeichen der Zeit gerade zum veränderten Handeln über die Grenzen der eigenen Organisation heraus, denkt man beispielsweise an die Auswirkungen des Klimawandels. Denn gläubig gesehen ist eine Krisenzeit ein Kairos: „also eine Krisenzeit, in die Gott seine Kirche hineingestellt hat. Die ungläubige Versuchung besteht darin, diese […] Herausforderung nicht anzunehmen“ (Zulehner 2011, 10).

Womöglich trifft der Begriff „Transformation“ den seit Jahrzehnten andauernden Wandel der Verhältnisse und der Reaktionsmechanismen darauf etwas präziser, da er weder ein Anfang noch ein Ende der Entwicklung suggeriert. Dann wäre nicht von einer Kirchenkrise zu sprechen, sondern von einer andauernden Transformation, also Umwandlung, Umformung oder Umgestaltung der Kirche.

Literatur

Beck, Wolfgang (2022). Ohne Geländer. Pastoraltheologische Fundierungen einer risikofreudigen Ekklesiologie. Mit einem Geleitwort von Rainer Bucher. Ostfildern.

Bernhardt, Reinhardt (2019). Religiöse Identitätsbildung im religionspluralen Kontext. In: Marianne Heimbach-Steins und Judith Könemann (Hg.): Religiöse Identitäten in einer globalisierten Welt. Münster, 87-94.

Bucher, Rainer (1998).  Kirchenbildung in der Moderne. Eine Untersuchung der Konstitutionsprinzipien der deutschen katholischen Kirche im 20. Jahrhundert. Stuttgart.

Dudenredaktion. „Krise“ auf Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Krise [zuletzt geprüft am 11.01.2024].Fenske, Uta/Hülk, Walburga/Schuhen, Gregor (Hg.) (2013). Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne. Bielefeld.

Großbölting, Thomas (2013). Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945. Göttingen.

Grözinger, Elisabeth (2010). „Kairos“ als Potential in der Seelsorge. In: Wege zum Menschen 62, 350-363.

Hülk, Walburga (2013). Narrative der Krise. In: Fenske, Uta/Hülk, Walburga/Schuhen, Gregor (Hg.) (2013). Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne. Bielefeld, 113-131.

Kassühlke, Rudolf (2005). Kleines Wörterbuch zum Neuen Testament. Griechisch-Deutsch. Freiburg i. Br.

Koselleck, Reinhardt (1982). Krise. In: Otto Brunner (Hg.). Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3. Stuttgart, 627-650.

Kunz, Florian (2024). Kirche im Fragment. Zur Sorge im kirchlich-organisationale Identität in der Spätmoderne. Stuttgart 2024.

Ollig, Hans-Ludwig (1993-2021). Krise I. Philosophisch. In: Walter Kasper u.a. (Hg.). Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6. 3. Auflag. 11 Bände. Freiburg u.a., 483.

Sobetzko, Florian (2021). Kirche neu gründen. Kairologische Pastoralentwicklung zwischen Krise und Gelegenheit. Würzburg.

Zulehner, Paul Michael (2011). „Seht her, nun mache ich etwas Neues“. Wohin sich die Kirchen wandeln müssen. Ostfildern.

Erstmals eingestellt am 06.01.2025 – zuletzt überarbeitet am 06.01.2025

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