von Carolin Hohmann
Begriffsbestimmung
Der Begriff „Intersektionalität“ wurde 1989 von der US-amerikanischen Juristin und Menschenrechtsaktivistin Kimberlé Crenshaw eingeführt. In ihrem viel zitierten Aufsatz „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex“ (1989) analysierte Crenshaw drei Gerichtsfälle, in denen Diskriminierungen Schwarzer Frauen juristisch nicht anerkannt worden waren. Im Fall „De Graffenreid vs. General Motors“ (1976) etwa klagten Schwarze Frauen gegen die Firmenstrategie „last hired, first fired“ von General Motors, die bestehende Diskriminierungen perpetuierte, weil Schwarze Frauen vor 1964 gar nicht erst eingestellt worden waren und betriebsbedingte Kündigungen folglich überproportional Schwarze Frauen trafen (vgl. Crenshaw 1989, 141; Auma 2019, 25). Die Möglichkeit eines Rechtsstreits wurde jedoch zurückgewiesen: Die Klägerinnen könnten entweder gegen Race- oder gegen Gender-Diskriminierung klagen, nicht aber beide Kategorien miteinander kombinieren (vgl. Crenshaw 1989, 141). Entsprechend möglich war eine Klage erstens als Frauen (Gender) oder zweitens als Schwarze (Race), nicht aber drittens als Schwarze Frauen (Gender, Race). Die Verwobenheit von Race und Gender, aus der die Diskriminierung der Schwarzen Frauen resultierte, wurde verkannt. Ein Verfahren gegen sexistische und rassistische Diskriminierung scheiterte zudem, weil weiße Frauen nach wie vor im Sekretariat von General Motors (keine Gender-Diskriminierung) und Schwarze Männer weiterhin am Fließband (keine Race-Diskriminierung) arbeiteten. So sah das Gericht beide Gruppen hinreichend im Unternehmen repräsentiert (vgl. Auma 2019, 25). Schwarze Frauen waren rechtlich mithin nur dann geschützt, wenn sich ihre Erfahrungen mit denen weißer Frauen oder Schwarzer Männer deckten (vgl. Crenshaw 1989, 143). Der Titel einer Anthologie von Hull et al. (1982) fasst dies gut zusammen: „All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave.“
Warum aber wird die Verwobenheit von Diskriminierungskategorien als „Intersektionalität“ bezeichnet? Dies hängt mit der Metapher einer Straßenkreuzung (engl. intersection) zusammen, mit der Crenshaw (vgl. 1989, 149) den beschriebenen Gerichtsfall veranschaulichte. Wenn sich an einer Straßenkreuzung ein Unfall ereigne, so könne nicht immer genau bestimmt werden, aus welcher Richtung das Auto oder aus welchen Richtungen die Autos, die den Unfall verursacht haben, kämen. Dieselbe Frage stellt sich für die verletzte Schwarze Frau an der Kreuzung: Ist die Race- oder die Gender-Ambulanz zuständig? Und (wie) wird der Frau geholfen, wenn die Frage nicht eindeutig beantwortet werden kann? Die Metapher macht wie schon der Gerichtsfall deutlich, dass sich Diskriminierungskategorien kreuzen, sie sind miteinander verwoben und realiter kaum zu trennen. Wird hingegen an einer einseitigen Betrachtung von Diskriminierungskategorien festgehalten, bleiben Diskriminierungserfahrungen minorisierter Menschen unerkannt und unsichtbar.
Rezeption
Der Aufsatz Crenshaws, insbesondere die Kreuzungsmetapher, ist breit rezipiert worden, nicht nur in juristischen Kontexten, sondern vor allem in der Soziologie, den Gender Studies, den Erziehungswissenschaften und seit einigen Jahren verstärkt auch in der Theologie. Dabei ist zu bemerken, dass es nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Deutschland bereits vor Crenshaw Theorieansätze gab, die die Überschneidung von Diskriminierungskategorien offenlegten. Von Aktivist:innen im Black Feminism war die Berücksichtigung intersektionaler Perspektiven – noch ohne Verwendung des Intersektionalitätsbegriffs – schon länger gefordert worden. Das Combahee River Collective (1982 [1977], 13) sprach beispielsweise von „manifold and simultaneous oppressions that all women of color face“, Unterdrückungssysteme bezeichneten sie als “interlocking”. ‚Intersektionalität avant la lettre‘ lässt sich also schon im Aktivismus Schwarzer Frauen ablesen und verweist so auf wichtige Schnittstellen zwischen Theorie und Praxis (für den bundesdeutschen Kontext vgl. Walgenbach 2012, 30–40).
In der Rezeptionsgeschichte des Intersektionalitätsansatzes fallen Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und deutschsprachigen Kontext auf. Einerseits betrifft dies die Kategorie Race, die in den Vereinigten Staaten eine andere Bedeutung als in Deutschland hat (vgl. Ferree 2013, 381). In deutschsprachigen Kontexten erweist sich bereits die Übersetzung von race als schwierig. Aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit wird „Rasse“ in deutschsprachigen Publikationen zumeist in Anführungszeichen gesetzt oder es wird der englische Terminus Race beibehalten, um auf die soziopolitische (statt biologistische) Konnotation aufmerksam zu machen. Andererseits haben in Deutschland soziologische Forschungen in marxistischer Tradition lange verstärkt die Klassenkategorie fokussiert, was sich in der Rezeption von Intersektionalität widerspiegelte (vgl. Ferree 2013, 381). Das Anliegen des Intersektionalitätsansatz ist es jedoch, die Dominanz einer Masterkategorie grundsätzlich zu hinterfragen. Die Kategorienfrage ist somit Teil der Rezeptionsgeschichte: Gibt es Kategorien, die in intersektionalen Analysen als ‚must have‘ immer berücksichtigt werden müssen (z. B. die ‚klassische‘ Triade Race, Class, Gender)? Falls ja: Werentscheidet, welche Kategorien (nicht) relevant sind? Welche Kategorien sollten neben den ‚Klassischen‘ berücksichtigt werden (z. B. Dis-/Ability, Nationalität, Religion)? Die Fragen werden ganz unterschiedlich beantwortet, häufig wird der jeweilige Forschungskontext als determinierend für relevante Kategorien ausgewiesen, pauschal ist die Kategorienfrage kaum zu beantworten.
Intersektionalität in der Theologie
Während in US-amerikanischen Publikationen schon seit einigen Jahren selbstverständlich von einer „Intersectional Theology“ die Rede ist, ist in Deutschland der Begriff ‚Intersektionale Theologie‘ bislang weniger gebräuchlich; in der Religionspädagogik wird zum Beispiel von einer intersektional arbeitenden Religionspädagogik gesprochen (vgl. Knauth 2020). In ihrer Monographie „Intersectional Theology“ betonen Grace Ji-Sun Kim und Susan M. Shaw (2018, 37), dass biographische Erfahrungen eng mit dem eigenen Theologie-Treiben verwoben sind: „Theology begins with experience.“ Entsprechend heben sie die (theologische) Bedeutung des eigenen sozialen Standorts, gekennzeichnet durch sowohl Erfahrungen von Diskriminierung als auch Privilegien („both/and“-Analyse), hervor (vgl. Kim und Shaw 2018, 19). Eine vollständige Trennung von subjektiven Erfahrungen und einer vermeintlich objektiven Theologie sei kaum möglich.
Es ist nicht verwunderlich, dass der Intersektionalitätsansatz vor allem in der theologischen Genderforschung aufgegriffen wurde. Ausgangspunkt waren hier Erfahrungen marginalisierter Frauen, weil eine Frauenperspektive lange unsichtbar gemacht und eine androzentrische Perspektive hingegen als universal tradiert worden war. Die Exegetin Elisabeth Schüssler Fiorenza (vgl. 2017, 26–28) hat mit ihrer Kyriarchatsanalyse auf Differenzen innerhalb von Frauenerfahrungen aufmerksam gemacht (Kyriarchat = gr. Κύριος, ‚Herr‘-schaft im Sinne einer Dominanzposition, die – anders als das Patriarchat – nicht auf die Genderkategorie beschränkt ist, sondern weitere machtvolle Kategorien berücksichtigt, vgl. Schüssler Fiorenza 1992, 8). Mit ihrer Analyse, die die Komplexität von Unterdrückungssituationen aufzeigt, macht Schüssler Fiorenza eine intersektionale Perspektive für exegetische Forschungen fruchtbar. Intersektionale Perspektiven in den Bibelwissenschaften finden sich daneben im Sammelband „Doing Gender – Doing Religion“ (Eisen et al. 2013), mit dem die Intersektionalitätsdebatte verstärkt Eingang in die deutschsprachige theologische Forschung fand.
Mit dem Intersektionalitätsansatz geraten also verschiedene (Diskriminierungs-)Kategorien in den Blick, die in ihrer Verwobenheit analysiert werden. Die theologische wie ekklesiologische Notwendigkeit eines solchen Ansatzes zeigt die systematische Theologin Gunda Werner (vgl. 2019, 297) am Beispiel des Missbrauchsskandals in der römisch-katholischen Kirche auf. Macht werde hier mehrdimensional erlebt und ausgeübt, es bedürfe einer intersektionalen Perspektive, um die Verwobenheit von (Macht-)Kategorien aufzudecken (z. B. Männer- und Frauenbilder, Sexualnormen, kirchliche und theologische Leitbilder). Die Religionspädagogik beschäftigt sich schon länger mit der Bedeutung von Diskriminierungskategorien, wenngleich mehrheitlich einzelne Kategorien im Fokus standen (insbes. Gender/Geschlecht, Dis-/Ability, soziale Herkunft und religiöse Differenz). Gegenwärtig setzt sich die inklusive Religionspädagogik der Vielfalt mit verschiedenen Differenzkategorien auseinander (vgl. Knauth et al. 2020). Sie greift damit bisher getrennt geführte Diskurse auf und leistet so einen wichtigen Beitrag zu einer intersektional arbeitenden Religionspädagogik.
Ausblick
Der Intersektionalitätsansatz zielt also darauf, erlebte Diskriminierungen in ihrer Komplexität analytisch zu erfassen. Dazu gehört auch die Frage nach der Bedeutung der Kategorie Religion, die für die Theologie eine zentrale, in der Forschung zu Intersektionalität allgemein jedoch eine marginale Rolle einnimmt: Welchen Beitrag kann die Theologie als gerechtigkeitssensible Wissenschaft leisten, um (Diskriminierungs-)Kategorien in ihrer Verwobenheit analytisch zu erfassen und zu bearbeiten? Und welche Handlungs- und Veränderungspotenziale resultieren daraus für Theologie, Kirche und Gesellschaft?
Literatur
Auma, Maisha-Maureen (2019). Kimberlé Crenshaws Einfluss auf mein gerechtigkeitsstra-tegisches Denken. In: Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung/Center for Inter-sectional Justice (Hg.). „Reach Everyone on the Planet…“ – Kimberlé Crenshaw und die In-tersektionalität. Berlin, o.A., 23–26.
Crenshaw, Kimberlé (1989). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. University of Chicago Legal Forum I (8), 139–167.
Eisen, Ute E./Gerber, Christine/Standhartinger, Angela (2013) (Hg.). Doing Gender – Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam. Tübingen, Mohr Siebeck.
Ferree, Myra Marx (2013). On the locally situated and historical understanding of intersectionalities: Comment on Knapp. EWE 24 (3), 378–381.
Hull, Gloria T./Scott, Patricia Bell/Smith, Barbara (1982) (Hg.). All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave. Black Women’s Studies. New York, The Feminist Press.
Kim, Grace Ji-Sun/Shaw, Susan M. (2018). Intersectional Theology. An Introductory Guide. Minneapolis, Fortress Press.
Knauth, Thorsten (2020). Intersektionalität. URL: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100233/ [zuletzt aufgerufen am 15.08.23].
Knauth, Thorsten/Möller, Rainer/Pithan, Annebelle (2020) (Hg.). Inklusive Religionspädago-gik der Vielfalt. Konzeptionelle Grundlagen und didaktische Konkretionen. Münster/New York, Waxmann.
Schüssler Fiorenza, Elisabeth (2017). Intersektionalität, Kyriarchat und Christliche Religion. In: Jost, Renate/Jäger, Sarah (Hg.). Vielfalt und Differenz. Intersektionale Perspektiven auf Feminismus und Religion. Berlin, Lit, 19–36.
Schüssler Fiorenza, Elisabeth (1992). But She Said: Feminist Practices of Biblical Interpretation. Boston, Beacon Press.
The Combahee River Collective (1982) [1977]: A Black Feminist Statement. In: Hull, Gloria T./Scott, Patricia Bell/Smith, Barbara (Hg.). All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave. Black Women’s Studies. New York, The Feminist Press, 13–22.
Walgenbach, Katharina (2012). Gender als interdependente Kategorie. In: Walgenbach, Katharina/Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Lann/Palm, Kerstin (Hg.). Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. 2. Aufl. Opladen/Toronto, Verlag Barbara Budrich, 23–64.
Werner, Gunda (2019). Doing intersectionality – Perspektiven für Systematische Theologie aus der intersektionalen Analyse von Macht. In: Rahner, Johanna/Söding, Thomas (Hg.). Kirche und Welt – ein notwendiger Dialog. Stimmen katholischer Theologie. Freiburg/Basel u. a., Herder, 296–308.
Erstmals eingestellt am 18.08.2023 – zuletzt überarbeitet am 18.08.2023