von Theresa Focke
Hinführendes zum Diversitätsbegriff
Der Begriff Diversität (lat. urspgl. diversitas) rekurriert als „empirisch-analytische Dimension“ (Schweiker 2020, 88) auf eine Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit, die durch Vielfalt „menschlicher Erscheinungs- und Ausdrucksformen“ (Knauth et al. 2020, 37) charakterisiert ist. Die Unterschiedlichkeit verschiedener Diversitätskonzepte erschwert eine klare Definition von Diversität, wobei einige Grundlinien aufgezeigt werden können. Diversity als bewusste Förderung von Vielfalt strebt die Anerkennung, die Wertschätzung und das Einbringen der Ressourcen aller Menschen (vgl. Walgenbach 2014, 92) an.
Unter anderem durch Individualisierung, Globalisierung und Prozesse der gesellschaftlichen und weltanschaulichen Pluralisierung zeigt sich eine große gleichzeitig wahrnehmbare Vielfalt in nahezu allen Bereichen (vgl. Bredendiek 2015, 20).[1] Vor allem mit Bürgerrechts-, Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegungen gingen die Sensibilisierung für Ungerechtigkeits- und Diskriminierungsstrukturen und das Eintreten für die gleiche rechtliche Anerkennung aller Menschen einher (vgl. Schweiker 2020, 89). Die Diversitätsdebatte gewann zum einen in der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung an Fahrtwind, zum anderen wurde sie auch stets für weitere gesellschaftliche Bereiche adaptiert, weiterentwickelt und in konkrete Maßnahmen überführt (vgl. Schlag 2017, 76). Hierbei wurde Diversität insbesondere in den Erziehungs- und Wirtschaftswissenschaften Gegenstand intensiver Reflexion, wobei die Etablierung von Diversity-Management Konzepten neben der Ermöglichung gleicher Teilhabechancen auch durch ökonomische Nutzung und Profitmaximierung motiviert war (vgl. Abdul-Hussain/Baig 2009, 39).
Beruhend auf einer Organisationsmanagement-Perspektive veranschaulichen Lee Gardenswartz und Anita Rowe (2003) Diversität im Four Layers of Diversity Modell, einem Zwiebelschalenmodell: Sie differenzieren zwischen inneren Dimensionen von Diversität (bspw. Gender, Nationality), äußeren Dimensionen, die in gewisser Weise im Einflussbereich des Individuums liegen (bspw. Beruf, Freizeitgestaltung) und organisatorischen Aspekten (bspw. Beschaffenheit des Arbeitsverhältnisses). Die Platzierung des Individuums im Zentrum des Modells betont die Komplexität der menschlichen Individualität, welche nicht in Kategorien- oder Gruppenzugehörigkeiten aufgeht.
Das Konzept Diversität beinhaltet ebenfalls ein machtanalytisches und affirmatives Moment. Dementsprechend sollen ungleich verteilte Ressourcen, Strukturen der sozialen Benachteiligung, Privilegien und ungerechte gesellschaftliche Teilhabechancen kritisch reflektiert und ihnen entgegengewirkt werden (vgl. Cross 1994, 35). Hierdurch wird deutlich, dass Diversität neben dem ihr inhärenten deskriptiven Moment ebenfalls eine politisch-normative Dimension erfährt und ihr der Charakter einer Querschnittsaufgabe zukommt (vgl. Knauth et al. 2020, 37). „Durch den Begriff der Diversität werden demzufolge Phänomene faktischer Pluralität und Heterogenität kriteriologisch auf ihre möglichen Phänomene und Ebenen, Ursachen, Wirkungen sowie Konsequenzen und auch Spannungen hin näher bestimmt“ (Schlag 2017, 77). Unter Wahrung der Differenzierung der Ansätze kann auch das Analyseinstrument der Intersektionalität für den Diversitätsansatz aufschlussreich sein (vgl. Könemann, 2021, 7; Schweiker 2020, 91, 94).
Diversität fokussiert auf die Bereicherung und Potentiale, die aus gesellschaftlicher Vielfalt resultieren, ohne dabei Herausforderungen, Unsicherheiten und Konflikte zu nivellieren, die sich aus (der Komplexität von) Diversität ergeben können (vgl. Abdul-Hussain/Baig 2009, 42). Durch die damit einhergehende Betonung von Differenz muss sich Diversität „der sozialkonstruktivistischen Kritik […] [stellen, Anmerk. d. Verf.], Unterschiede durch die Benennung und Fokussierung erst zu erzeugen (doing difference). Eine Frage ist, ob das Diskursfeld der Diversität dichotome bzw. stereotype Zuschreibungen reproduziert“ (Schweiker 2020, 93).[2] In diesem Zusammenhang gilt es, sich vor Vereindeutigungen von Diversitätskategorien zu hüten und sie stattdessen als „Resultate bestimmter Entwicklungs-, Interpretations- und Konstruktionsprozesse [zu begreifen, Anmerk. d. Verf.], sodass diesen eine grundsätzliche Unabschließbarkeit und Variabilität zukommt“ (Schlag 2017, 77). Diese Kategorien sollten jedoch zugleich weder essentialisiert noch homogenisiert, sondern in ihrer „Kontextualität, Relationalität und Konstruiertheit“ kritisch reflektiert werden (Knauth et al. 2020, 43). Diversität ist somit nicht als statisches Konstrukt, sondern als prozessual und veränderbar (auch: doing diversity) zu verstehen. Ebenfalls sind historische orts- und zeitbedingte Zuschreibungsprozesse in Zusammenspiel mit Aspekten von sozialer Handlungsmacht in der Konstruktion von Diversität ausschlaggebend (vgl. Lehmkuhl/Lüsebrink 2015, 10; zur Kategorienfrage siehe auch Beitrag auf dieser Seite zu Intersektionalität: Hohmann 2023).
Diversität in Theologie und Kirche
Gal 3,28 stellt eine häufig herangezogene Passage zu Diversität im christlichen Kontext dar, wobei diese nicht darauf abzielt, Verschiedenheit zu nivellieren, sondern Vielfalt wahrzunehmen sowie Exklusionen abzuschaffen (vgl. Eckholt, 2017, 20). Dieser schon vorausgehend können in der Vielfalt der Schöpfung, dem in der Gottesebenbildlichkeit verankerten Gleichheitsprinzip sowie im Trinitätsdogma theologische Wurzeln von Diversität identifiziert werden (vgl. Eltz 2021, 337-338). Auch in der Praxis und Botschaft Jesu sieht Margit Eckholt (vgl. 2017, 12-13) Diversität grundgelegt. Dass im Gründungsakt der Kirche und ihrer Erscheinungsform in der Antike Vielfalt als konstitutiv und gewinnbringend angesehen wird – wenn sie auch immer wieder auszuhandeln war –, lässt sich exemplarisch am Pfingstgeschehen verdeutlichen (vgl. Eckholt 2017, 12).
Trotz dieses verbindenden theologischen Potentials macht ein Blick in die Kirchengeschichte deutlich, dass eine wertschätzende Umgangsweise mit Diversität häufig eine Herausforderung bildete und teilweise bis heute in Kirche und Theologie zurückgedrängt und restringiert wird (vgl. Eckholt 2017, 11). Lehren wie die von der societas perfecta oder Antigenderismus-Bewegungen ließen wenig Spielraum für Unterschiedlichkeit. Angst vor Fremdem und die Verstrickung in gesellschaftspolitische Machtansprüche (vgl. Wustmans 2017, 26) führten vor allem durch lehramtliche Entscheidungen in der Katholischen Kirche zu Diskriminierungen von vom Mainstream abweichenden Personen. Das Zweite Vatikanische Konzil sowie neuere (befreiungs)theologische und pastorale Impulse gestalten einen Paradigmenwechsel in Richtung Anerkennung und wertschätzende Umgangsformen von Diversität, deren Aushandlungen jedoch als unabgeschlossen anzusehen sind (vgl. Eckholt, 2017, 23).
Zugleich muss auch in Hinblick auf den theologischen Wissenschaftsbetrieb kritisch angefragt werden, inwiefern dort Diversität und Fragen von Repräsentationsungerechtigkeiten produktiv bearbeitet werden (vgl. Suchhart-Kroll 2019). Judith Gruber macht auf ein problematisches „Selbstverständnis deutschsprachiger Theologie“ sowie auf die „Tendenz zur Ausblendung von Machtverhältnissen in der theologischen Wissensproduktion“ (Gruber 2017, 23-24) aufmerksam, demzufolge bestimmte Stimmen, Ansätze und Positionen unsichtbar und marginalisiert werden. Es wird deutlich, dass auch hier (vgl. Kwok 2013, 324) sowie in Hinblick auf Hochschulstrukturen noch bedeutsame Schritte in puncto Diversität ausstehen (vgl. Aichinger et al. 2020, 10).
Diversität und Pastoraltheologie
Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen stellt sich der Umgang mit und die Förderung von Diversität für die Pastoral(theologie) als Grundaufgabe (Schlag, 2017, 73-74). Eckholt (2017, 9) konstatiert, dass Diversität „zu einem neuen Kontext für pastorales und theologisches Arbeiten geworden“ ist, nicht zuletzt, da Diversität „fundamentale Fragen des Zusammenlebens [betrifft, Anmerk. d. Verf.] und diese […] die Kirche, ihre Pastoral und die Rede von Gott nicht unberührt“ (Wustmans 2017, 32) lassen dürfen.
Zum einen ist eine intensive interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Diversität im kirchlichen Kontext sowie der Abbau von machtvollen Strukturen, Barrieren und Diskriminierungsprozessen auf Makro-, Meso- und Mikroebene erforderlich (vgl. Schlag 2017, 76). Beispiele hierfür sind: die Formulierung einer Theologie der Diversität (vgl. Eckholt/Wendel 2012, 10), eine „partizipative und diversitätsoffene Gottesdienstpraxis“ (Schlag 2017, 87) und das (seelsorgliche) Eingehen „auf unterschiedliche Menschen in ihrer jeweiligen persönlichen Lebenssituation“ (Malburg 2021, 340). Ein enger Austausch von pastoraler Praxis und akademischer Theologie kann gegenseitig Impulse initiieren und Lernprozesse anstoßen. Die Adaption der ursprünglich für den Arbeitskontext ins Leben gerufenen Charta der Vielfalt kann für den kirchlichen Kontext vielversprechend sein (vgl. Beck, 2017, 212). Auch ursprünglich in der Wirtschaft entstandene, jedoch ethisch ambivalente Konzepte des Diversity Management (vgl. Schweiker 2020, 89) gilt es, hinsichtlich ihres Ertrags für die Institution Kirche zu untersuchen (vgl. Laudage-Kleeberg 2017, 136-138).
Hierbei ist die Pastoraltheologie auch gefordert, eurozentristische und hegemoniale Strukturen aufzudecken, ihnen entgegen zu wirken und Pastoraltheologie machtsensibel zu gestalten (vgl. Leimgruber 2020). So hat die Pastoraltheologie der gesellschaftlichen Diversität Rechnung zu tragen; ihr kommt somit nicht nur die Aufgabe zu, die „Freude an der Diversität zurück[zu]erobern, die ihrem Glauben zugrunde liegt“ (Eltz 2021, 339), sondern auch in prophetischer Weise neue, konstruktive, produktive und kreative Wege im Umgang mit Diversität aufzuzeigen und so auch gesamtgesellschaftlich bei der Gestaltung mitzuwirken (vgl. Wustmans 2017, 29-30).
Quellenverzeichnis
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[1] Bredendiek (vgl. 2015, 22) konstatiert in diesem Zusammenhang eine lokale Heterogenisierung und globale Homogenisierung.
[2] Für eine weitere kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept Diversität siehe auch: Walgenbach 2014, 120-121.
Erstmals eingestellt am 27.09.2024 – zuletzt überarbeitet am 27.09.2024