Digitale Transformation

von Andree Burke

Mit seinem Titel will dieser Beitrag schon eine Richtung einschlagen: Wenn auch eine grundsätzliche Verwobenheit beider Begriffe anzunehmen ist, akzentuiert doch „digitale Transformation“ die sozialen und kulturellen Auslöser und Auswirkungendes Aufkommens von Techniken und Praktiken der „Digitalisierung“. Digitalisierung bezeichnet zunächst einmal eine Datenspeichertechnik bzw. eine archivalische Praktik, die sich von analogen Speichertechniken unterscheidet (vgl. Hunze 2021). Im Unterschied zu analogen Daten werden digitale Daten in einen Binärcode übersetzt, der die Menge der zu speichernden Daten reduziert und diese dadurch portabler macht. Eine analoge Speichertechnik wie die Schallplatte zum Beispiel gibt beim Auflegen auf ein Grammophon stufenlos die eingeritzten Schwingungen einer Audioaufnahme wieder, während ein MP3-Player einen gespeicherten Code in Schwingungen (rück-)übersetzt.

In praxistheoretischer Hinsicht ist anzunehmen, dass solche im 20. Jahrhundert entwickelten archivalischen Praktiken („Digitalisierung“) sowohl Auswirkung als auch Auslöser digitaler Transformationsprozesse sind. Nicht nur computerisierte Artefakte (oder das, was umgangssprachlich „digitale Technik“ ist) lösen einen soziokulturellen Wandel aus, sondern umgekehrt ist die erfolgreiche Vermarktung jener Artefakte auch als Auswirkung eines soziokulturellen Wandels zu verstehen (vgl. Nassehi 2019). Der Begriff „digitale Transformation“ ist deshalb in den Zusammenhang „eines sehr viel längerfristigen Technisierungsprozesses“ (Schrape 2021, 12) einzuordnen, der immer wieder neu soziale, ökonomische und kulturelle Paradigmen verändert. „Digitalisierung“ als soziologisch anschlussfähiger Begriff könne demnach nicht als disruptiver Bruch, sondern müsse „als inkrementeller [also: schrittweise erfolgender] Veränderungsprozess“ (Schrape 2021, 81) begriffen werden. Um das präzise zu beschreiben, eignet sich der Begriff „digitale Transformation“. Digitale Transformation kann als jener(unabgeschlossene) Prozess angesehen werden, der in eine „digitale Gesellschaft“ führt.

So zählen beispielsweise zur digitalen Transformation nicht nur die Auswirkungen der Ablösung der analogen Schallplatte (oder der analogen Audiokassette) durch die digitale CD (oder den digitalen MP3-Player). Sondern zugleich ist eben auch die Überholung der Vermarktung der CD durch Musik-Streaming-Plattformen und die damit verbundenen ökonomischen Verschiebungen in der Musikindustrie als Entwicklung der digitalen Transformation beschreibbar. Dass technischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Wandel durch Digitalisierung eng miteinander verwoben sind, wird dadurch zum Ausdruck gebracht.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass in techniksoziologischer Betrachtung wie sie bspw. in der Akteur-Netzwerk-Theorie zugrunde gelegt wird (vgl. Latour 2019), die Artefakte, die generalisierend als „Technik“ bezeichnet werden, selbst als Aktanten angesehen werden, von denen aktiv Wirkungen ausgehen. Genau genommen ist deshalb auch kein Bereich der Technik als solcher identifizierbar, sondern jeweils nur das einzelne Artefakt als Aktant in einem je speziellen Netzwerk (vgl. Latour 2018, 303-305). Auch mit diesen techniksoziologischen Erkenntnissen wäre davon abzusehen, digitale Transformation generalisierend auf eine Entwicklung der Technik zu beziehen. Stattdessen müsste sie als Auslöser und Auswirkung der Nutzung je einzelner Artefakte in einem jeweiligen Akteurnetzwerk angesehen werden.

Felix Stalder (vgl. Stalder 2019) beschreibt eine sich aus digitalen Transformationsprozessen herleitende Kultur der Digitalität, die in praktisch-theologischen Veröffentlichungen wiederholt aufgegriffen und verarbeitet wird (vgl. bspw. Beck 2021 oder Reis 2021). Stalder spricht von Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität als neuen und verstärkt wirksamen kulturellen Ordnungsparadigmen. So seien Kulturpraktiken häufiger von einer Logik der Referentialität geprägt, wenn und weil sie (wie bspw. bei einem Remix) bereits mit Bedeutung versehenes Material verwenden, um neue Bedeutung zu schaffen. Gemeinschaftlichkeit verändere sich gleichzeitig, wenn und weil neue gemeinschaftliche Formationen (bspw. die LGBTQI-Bewegung) gegenüber etablierten Institutionen (Parteien, Kirchen, etc.) an Einfluss in der Produktion geteilter Bedeutung gewinnen. Notwendigerweise entstehe dabei eine Parallelität von einer Vielzahl dezentraler kultureller Austauschprozesse, die die Installation von Ordnungssystemen erforderlich macht. Für solche würden Algorithmen genutzt, die maschinell das für die oder den Einzelnen Unüberschaubare sortieren (bspw. Internet-Suchmaschinen). Hierbei werde durch Technik auf neue Weise Bedeutung produziert, denn nun „steht nicht die beste Lösung oder die richtige Antwort im Vordergrund, sondern eine, die verfügbar und gut genug ist“ (Stalder 2019, 202).

Wenn digitale Transformation in die Produktion sozialer und kultureller Bedeutung involviert ist, dann wird auch schnellverständlich, warum sie zur Situation neuer machttheoretischer Fragestellungen wird. So wird bspw. die Überwachung nicht länger primär als zentralinstitutionelles Machtinstrument (vgl. Foucault 1993), sondern nun verstärkt auch als Konsumpraktik kritisch reflektiert (vgl. Zurawski 2021). Unter anderem die Nutzung von Social-Media-Plattformen könne als eine solche Überwachungs-Konsumpraktik angesehen werden. Gleichzeitig rufen die gleichen Plattformen die oder den Einzelnen an, sich via eines eigenen Profils im Wettbewerb des Besonderen zu vermarkten – also zu Konsumzwecken überwachen zu lassen. Andreas Reckwitz spricht vom digitalen Subjekt als einem „Profil-Subjekt“ (Reckwitz 2020, 245), das sich mit einer konstellativen Inszenierung seiner Interessen, Ansichten und Leistungen öffentlich vorstellt. Im Zuge digitaler Transformationsprozesse wird das Subjekt zunehmend identisch mit seiner Performance vor einem Publikum. Damit kann hier zumindest im Beispiel angedeutet werden, dass digitale Transformation sich nicht nur auf Dinge an sich oder Strukturen an sich erstreckt, sondern eben auch das Subjekt digitalen Transformationen (jenseits dinglicher Transhumanismusdiskurse) unterliegt.

Für das theologische Diskursfeld hat Michael Schüßler kritisch auf drei größere theologisch-diskursive Themenpfade zurAuseinandersetzung mit Digitalität hingewiesen (vgl. Schüßler 2021, 175-187). Er entdeckt erstens einen „pastoral-instrumentellen“ Diskurs, der Technik nutzbar machen will, um ein fremdes Publikum mit Kirchencontent zu erreichen. Zweitens sieht er einen „fundamentaltheologisch-defensiven“ Diskurs, der eher pessimistisch auf die Entwicklung von Technik blickt und gegen diese ein bestimmtes Menschenbild in Schutz zu nehmen versucht. Drittens weist er auf einen „theologisch-ethischen“ Diskurs hin, der Technik als vom Menschen entfremdete Entität bewertet. Schüßler bestimmt demgegenüber einen anderen Ort theologischer Reflexion: „Theologie muss (…) das exklusiv Humane nicht gegen hilfreiche Technik verteidigen. Sie macht vielmehr sensibel für die Kontingenzen in beiden Bereichen“ (Schüßler 2021, 190).

Was dadurch sichtbar wird, ist: Innerhalb und neben den größeren Diskurssträngen besteht die Herausforderung pastoraltheologischen Handelns und Forschens gerade darin, digitale Transformationen als Zeichen der Zeit begreifbar zu machen, also als aufzusuchende Lebensorte, an denen sich das Menschsein von Menschen entscheidet (vgl. Sander 2005,716). Dabei könnten zwei Zuspitzungen von besonderem Interesse sein. 

Zum einen produzieren digitale Transformationsprozesse Gewinner:innen und Verlierer:innen auf sozialer, ökonomischer und kultureller Ebene gleichermaßen. Eine wenn auch nicht grundsätzlich neue, aber hier sehr konkrete pastoraltheologische Frage lautet daher: Wo sind die Verlierer:innen dieser gesellschaftlichen Veränderungsprozesse und wie solidarisiert man sich mit ihnen? Wo sind beispielsweise diejenigen, die in der Aufmerksamkeitsökonomie der Online-Plattformen nicht gesehen werden und wer verhilft ihnen zu ihrem Recht?

Zum anderen geht mit digitalen Transformationsprozessen eine Konzentration auf Informationspraktiken einher. Informationsverarbeitung wird dadurch zum Kommunikations-Standard. Dagegen sollte eine pastoraltheologische Situationsanalyse damit rechnen, dass es einen Überschuss an Wirklichkeit gegenüber ihrer hermeneutischen Formatierung als Information gibt. Die Ereignisse in den Blick zu nehmen, durch die sich jener Überschuss ins Wort bringen lässt, wird durch digitale Transformationsprozesse zu einer noch dringenderen Aufgabe pastoraltheologischen Forschens.

 Literatur

Beck, Wolfgang (2021). Zur Kultur der Digitalität. Ein Interview von Wolfgang Beck mit Felix Stalder. In: Beck, Wolfgang/Nord, Ilona/Valentin, Joachim (Hg.). Theologie und Digitalität. Ein Kompendium. Freiburg im Breisgau, Herder, 21-30.

Foucault, Michel (1993). Überwachen und Strafen. Über die Geburt des Gefängnisses. 15. Aufl. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Hunze, Guido (2021). Technisches Upgrade oder soziokulturelle Transformation? Warum Digitalisierung mehr ist als der Einsatz digitalisierter Medien in der Lehre. In: Burke, Andree/Hiepel, Ludger/Niggemeier, Volker/Zimmermann, Barbara (Hg.).Theologiestudium im digitalen Zeitalter. Stuttgart, 97-119.

Latour, Bruno (2018). Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Wissenschaftliche Sonderausgabe. Berlin, Kohlhammer.

Latour, Bruno (2019). Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. 5. Aufl.Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Nassehi, Armin (2019). Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, 3. Aufl. München, C.H.Beck.

Reckwitz, Andreas (2020). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. 3. Aufl. Berlin, Suhrkamp.

Reis, Oliver (2021). Transformationen des hochschuldidaktischen Dreiecks im Kontext der Digitalisierung. In: Burke, Andree/Hiepel, Ludger/Niggemeier, Volker/Zimmermann, Barbara (Hg.). Theologiestudium im digitalen Zeitalter. Stuttgart, Kohlhammer, 67-85.

Sander, Hans-Joachim (2005). Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. Gaudium et spes [Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil; 4]. Freiburg im Breisgau, Herder.

Schrape, Jan-Felix (2021). Digitale Transformation. Bielefeld, transcript.

Stalder, Felix (2019). Kultur der Digitalität. 4. Aufl. Berlin, Suhrkamp.

Schüßler, Michael (2021). Latours hybride Schöpfung: Transformationen einer Theologie der Digitalität. In: Bogner, Daniel/Schüßler, Michael/Bauer, Christian (Hg.). Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft. Theologie anders denken mit Bruno Latour (Religionswissenschaft; 28). Bielefeld, transcript, 161-193.

Zurawski, Nils (2021). Überwachen und Konsumieren. Kontrolle, Normen und soziale Beziehungen in der digitalen Gesellschaft. Bielefeld, transcript.

Erstmals eingestellt am 16.05.2023 – zuletzt überarbeitet am 16.05.2023

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