von Markus Adolphs
Der Begriff der Anerkennung (engl. recognition; franz. reconnaissance) bezeichnet einen Akt, der im alltäglichen deutschenSprachgebrauch mehrere Bedeutungen hat. Es kann zwischen mindestens fünf unterschieden werden: 1. Einsicht und Akzeptanz („Ich anerkenne meinen Fehler.“); 2. Würdigung und Lob („Ich zolle deiner Kochkunst Anerkennung.“); 3. Achtung und Respektierung („Ich erkenne dein Recht auf freie Rede an.“); 4. offizielle Gültigkeitserklärung („Die Urkunde wird als gültig anerkannt.“); 5. Billigung und Zustimmung („Ich anerkenne die Notwendigkeit einer Arbeitsmarktreform.“) (Siep et al. 2019, 5–7).
In sozialphilosophischen Ansätzen erfährt der Begriff gegenüber dem Alltagsverständnis eine Präzisierung, insofern ihm eine normative Dimension im Blick auf individuelle Identität, Autonomie und Gesellschaft zugeschrieben wird. Angeknüpft wird an das Verständnis von Anerkennung als Würdigung (2) und Achtung (3). Beide Begriffe bringen evaluative Handlungen zum Ausdruck, in denen eine Wertschätzung von Personen geschieht. Ein Kerngedanke sozialphilosophischer Theorien ist, dass menschliche Identität sich primär aus den Beziehungen zu anderen Menschen verstehen lässt und diesen Beziehungen eine konstitutive Bedeutung für die Ausbildung von Autonomie zukommt. Damit wird die Vorstellung eines vorsozialen Selbst abgelehnt und Individualität und Sozialität in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis gesetzt. Darin kommt der Anerkennung als expressivem Akt der Würdigung und Achtung eine zentrale Stellung für die Konstituierung von Menschen als Subjekten zu.
Dieses Bedingungsverhältnis wird in verschiedenen Ansätzen von Anerkennungstheorien sehr unterschiedlich ausgeführt. Grundsätzlich lässt sich zwischen sog. positiven und negativen Formen vonAnerkennungstheorien unterscheiden (Jaeggi und Celikates 2017, 58–69).
In positiven Anerkennungstheorien (z.B. G. W. F. Hegel, C. Taylor und v.a. A. Honneth) wird Anerkennung als Voraussetzung autonomer Selbstbestimmung begriffen. Honneth denkt Autonomie immer relational. Er vertritt die These, dass ein Subjekt sich nur dann als selbstbestimmt erfahren kann, wenn es von relevanten anderen in seiner autonomen Selbstbestimmung anerkannt, d.h. in seinen Wünschen und Ansprüchen von anderen gewürdigt und geachtet wird. Anerkennungsprozesse sind jedoch wesentlich konfliktiv, da es den Regelfall darstellt, dass Anerkennung vorenthalten wird, das Subjekt also gerade nicht in allen relevanten Facetten seiner Identität anerkannt wird. Die Ausbildung von Selbstbestimmung ist deshalb ein niemals abgeschlossener „Kampf um Anerkennung“ (Honneth 2016), d.h. ein Kampf um eine angemessene Wertschätzung und Achtung. Der Kampf um Anerkennung beschränkt sich nicht auf den sozialen Nahbereich, sondern wird auch auf die gesellschaftlichen Strukturen ausgeweitet. Das Prinzip der Autonomie erfordert, dass die Wertschätzung und Achtung des Subjekts auch in gesellschaftlichen Strukturen Ausdruck finden, insbesondere in der Anerkennung von Rechtsansprüchen und gesellschaftlicher Wertschätzung, z.B. in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (Honneth 2011). Die Ausbildung von Autonomie geht deshalb einher mit der Frage nach einer gerechten Ausgestaltung gesellschaftlicher Strukturen.
Im Zentrum negativer Anerkennungstheorien (z.B. J. Rousseau, J.P. Sartre und v.a. J. Butler) steht die Erfahrung der „Anrufung“ (Butler 2015, 10). Anerkennung wird als festlegende Identifikation durch andere verstanden, die einerseits Voraussetzung für die Subjektwerdung ist, indem sie das Begehren formt, andererseits immer eine Unterwerfung unter bestehende Wertkategorien darstellt. Anerkennung stellt in dieser Verwendungsweise eine identitätsproduktive Form von Machtausübung dar, die zu einem paradoxen Verständnis von Subjektivation führt: Sie ist konstitutiv für die Ausbildung eines normativen Selbstverhältnisses, zugleich ist jedes Selbstverhältnis immer schon Ausdruck einer Entfremdung von sich selbst (Butler 2015, 7).
Der Begriff der Anerkennung wird seit einigen Jahren in verschiedenen Fächern der christlichen Theologie produktiv aufgegriffen (beispielsweise in der Fundamentaltheologie (Knapp 2020, Hoffmann 2013); in der Exegese (Janowski 2009); in der Sozialethik (Emunds et al. 2021); in der Religionspädagogik: (Grümme 2021, Krobath 2014); in der evg. praktischenTheologie: (Karle 2016, Braune-Krickau 2014).
Seine praktisch-theologische Bedeutung liegt in seiner kritischen Perspektive auf autonomieeinschränkende Beziehungen und Strukturen. In seiner positiven wie negativen Form stellt der Begriff der Anerkennung (in unterschiedlicher Weise) eine „hermeneutische Kategorie“ (Polak 2014, 325) zur Verfügung, die eine „differenzierte Wahrnehmung von Beziehungen – sowohl auf personaler als auch auf struktureller Ebene innerhalb der Kirche und im Blick auf die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft“ (Polak 2014, 325) ermöglicht. Besonders gewinnbringend kann der Begriff in folgenden Bereichen eingesetzt werden.
Selbstbestimmung und Sozialität fördern
In positiven Anerkennungstheorien wird der Zusammenhang von Autonomie und der Anerkennung durch gesellschaftliche Strukturen unterstrichen. Damit kirchliche Strukturen als Orte erlebt werden können, die dem normativen Anspruch nach Selbstbestimmung genügen, müssen diese in der Lage sein, Wertschätzung und Achtung zum Ausdruck zu bringen. Dies wirkt sich z.B. auf die Frage aus, ob die Partizipation an Entscheidungsprozessen eine reale Auswirkung auf das Ergebnis hat oder ob Entscheidungsmacht nur simuliert wird. Im ersten Fall können die Strukturen zu einer Stärkung (religiöser) Selbstbestimmung beitragen. Letzteres wäre ein Ausdruck von Missachtung von Selbstbestimmung und würde die kirchlichen Partizipationsstrukturen als nicht autonomiefördernd entlarven und delegitimieren (Jürgens und Sellmann 2020, 358f.).
Machtkritik üben
Positive und negative Anerkennungstheorien reflektieren in verschiedener Weise auf die Bedeutung von Macht an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft. In der Sozialphilosophie werden Machtverhältnisse auf ihre Legitimität mittels der Fragestellung untersucht, ob sie „Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Transformationsprozesse behindern“ (Jaeggi und Celikates 2017, 83). Insbesondere die negativen Formen der Anerkennungstheorie betreiben eine Machtkritik, indem sie identitätsproduktive Machtverhältnisse analysieren, historisieren und damit bearbeitbar machen. Dadurch werden Handlungsspielräume eröffnet, die Kritik und Veränderungen möglich machen (Leimgruber 2020, 57–62). Pastoraltheologische Bedeutung hat dies etwa bei der Analyse von Geschlechterbildern, die bei der Feier von Sakramenten reproduziert werden. Welche Geschlechterbilder und Beziehungsvorstellungen werden in der Ehevorbereitung und Eheschließung aktualisiert? Welche Beziehungsmuster werden transportiert, wenn der Priester in der Beichte als (Beicht-)Vater adressiert wird? Welche Gottesbilder werden durch die Liturgie stabilisiert?
Ungleichzeitigkeiten zwischen kirchlichen und gesellschaftlichen Anerkennungsordnungenaufdecken
Die prozessuale Perspektive auf Identität und Selbstbestimmung eröffnet den Blick auf die historische Entwicklung dessen, was kirchlich und gesellschaftlich als anerkennungswürdig gilt. Die Ausweitung von Selbstbestimmung wird in positiven Anerkennungstheorien als Fortschritt rekonstruiert (Honneth 2007, 27), wodurch Ungleichzeitigkeiten zwischen gesellschaftlichen und kirchlichen Anerkennungsordnungen auftreten. Während in Deutschland z.B. die sexuelle Selbstbestimmung in den gesellschaftlichen Strukturen zunehmend Wertschätzung und Achtung erfährt und sich in der Gesetzgebung niederschlägt, ist es umstritten, in welcher Weise dies in kirchlichen Strukturen seinen Ausdruck finden soll (Hilpert 2022). Damit gerät die kirchliche Anerkennungsordnung in Spannung zu der gesellschaftlichen und kann dieser gegenüber als defizitär eingestuft werden, da sie den Standard des gesellschaftlich Anerkannten nicht erreicht (Schockenhoff 2021, 234–240).
Literatur
Braune-Krickau, Tobias (2014). Religion und Anerkennung. Ein Versuch über Diakonie als Ort religiöser Erfahrung. Tübingen, Mohr Siebeck.
Butler, Judith (2015). Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. 8. Aufl. Frankfurt (Main), Suhrkamp.
Emunds, Bernhard/Hagedorn, Jonas/Hänselmann, Eva/Heimbach-Steins, Marianne (Hg.) (2021). Pflegearbeit im Privathaushalt. Sozialethische Analysen. Boston, Brill.
Grümme, Bernhard (2021). Praxeologie. Eine religionspädagogische Selbstaufklärung. München, Herder.
Hilpert, Konrad (2022). Sexualmoral und kirchliche Lehre. Zum Grundtext des Synodalforums „Leben in gelingenden Beziehungen“. Herder Korrespondenz 76 (9), 25–28.
Hoffmann, Veronika (2013). Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe. Freiburg, Herder.
Honneth, Axel (2007). Die Unhintergehbarkeit des Fortschritts. Kants Bestimmung des Verhältnisses von Moral und Geschichte. In: Axel Honneth (Hg.). Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der kritischen Theorie. Frankfurt (Main), Suhrkamp, 9–27.
Honneth, Axel (2011). Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin, Suhrkamp.
Honneth, Axel (2016). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte; mit einem neuen Nachwort. 9. Aufl. Frankfurt (Main), Suhrkamp.
Jaeggi, Rahel/Celikates, Robin (2017). Sozialphilosophie. Eine Einführung. München, C.H. Beck.
Janowski, Bernd (2009). Anerkennung und Gegenseitigkeit. Zum konstellativen Personenbegriff des Alten Testaments. In: Bernd Janowski/Kathrin Liess/Niko Zaft (Hg.). Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie. Freiburg/Basel/Wien, Herder, 181–211.
Jürgens, Benedikt/Sellmann, Matthias (2020). Nur wer das Heilige loslässt, wird es bewahren. Kriteriologie einer praktischen Theologie kirchlichen Entscheidens. In: Benedikt Jürgens/Matthias Sellmann (Hg.). Wer entscheidet, wer was entscheidet? Zum Reformbedarf kirchlicher Führungspraxis. Freiburg/Basel/Wien, Herder, 295–365.
Karle, Isolde (2016). Die Suche nach Anerkennung – und Religion. Evangelische Theologie 76 (6), 406–414.
Knapp, Markus (2020). Weltbeziehung und Gottesbeziehung. Das Christentum in einer säkularen Moderne – eine anerkennungstheoretische Erschließung. Freiburg, Herder.
Krobath, Thomas (Hg.) (2014). Anerkennung in religiösen Bildungsprozessen. Interdisziplinäre Perspektiven. Göttingen, V&R Unipress.
Leimgruber, Ute (2020). »Unsere Chance … menschlich zu werden«. Anstöße aus der Lektüre Judith Butlers für die pastoral-theologische Rede von Menschen und Macht. In: Bernhard Grümme/Gunda Werner (Hg.). Judith Butler und die Theologie. Herausforderung und Rezeption. Bielefeld, transcript, 43–62.
Polak, Regina (2014). Anerkennung: Eine Herausforderung für Kirche und Pastoral: Ein Versuch. In: Thomas Krobath (Hg.). Anerkennung in religiösen Bildungsprozessen. Interdisziplinäre Perspektiven. Göttingen, V&R Unipress, 315–344.
Schockenhoff, Eberhard (2021). Die Kunst zu lieben. Unterwegs zu einer neuen Sexualethik. Freiburg, Herder.
Siep, Ludwig/Ikäheimo, Heikki/Quante, Michael (Hg.) (2019). Handbuch Anerkennung. Wiesbaden, Springer VS.
Erstmals eingestellt am 18.08.2023 – zuletzt überarbeitet am 18.08.2023